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Jörg Dietrich
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Da fragt mich doch ein Weltenbummler mitten im Thüringer Wald:
»Kennst du die Perle, die Perle Tirols?«
Worauf ich ihm entgegenschleudere:
»Diesen Weg auf den Höhn bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder!«
Und ich sinke darauf auf die Knie, um den heiligen Trampelpfad der Thüringer mit meinen feuchten Lippen zu benetzen. Denn ich sitze am Rennsteig zwischen Oberhof und Schmiedefeld auf dem Großen Beerberg, einem Vulkan, der letztmalig vor 250 Millionen Jahren aktiv gewesen sein soll, und dort auf einem touristischen Hochstand, damit die höchste Erhebung Thüringens dem Besucher tausend Meter über Null suggeriert, und schaue hinab auf das, was mir der Thüringer Wald beschert. Dörflich-kleinstädtische Romantik schmiegt sich in das Dekolleté lieblich gewölbter, blauer Berge. Und damit es nicht zu kitschig wird, sind in diese Aussicht Brüche eingebaut, mit Kästen des sozialistischen Realismus, die – man blickt von hier direkt auf Suhl – wie freigespülte Weltkriegsbunker aus dem Meer ragen.
Wie die vielen Quellen unter dem Hochmoor auf dem Gipfel des Großen Beerbergs kleinen Lavaströmen gleich, sprudeln hier meine Gedanken hinab in die Niederungen Thüringer Befindlichkeit und öffnen die Türen zu den Schrulligkeiten und Gemeinheiten, die uns die lieben Mitbürger gern vorenthalten.
Ich sitze besser erhöht und genieße die Aussicht. Dann kann ich meine unordentlichen Gedanken in eine Formation bringen, die mich interessiert. In Thüringen geht das an verschiedenen Stellen ganz gut. Und überall ist dieses kleine Land auf eine sehr eigene Weise ein bisschen anders, die Landschaft und (mit ihr oder auch nicht) die Leute.
So einen besonderen Platz habe ich auch auf der Anhöhe über Ottstedt am Berge, der Hottelstedter Höhe. Hier spüre ich im engen Thüringen so etwas wie Weite.
Fünfzehn Prozent steil geht es vom Dorfe am Südhang mit dem von Weimarern – meist …Innen – geschätzten Pferdestall hinauf auf das Plateau am westlichsten Ausläufer des Ettersberges. Nichts für schwere Radfahrer.
Oben weht immer ein Lüftchen und der Blick nach Süden und Südwesten ist frei in den Erfurter Kessel, der auch 30 Jahre nach dem Kohleofen ob seiner besonderen Lage noch immer ein wenig diesig ist. Alles rein, nichts raus, pflegte mein Geografielehrer in den Achtzigern immer zu sagen. Linker Hand versteckt sich Weimar in dichtem Grün. Ein paar Türme ragen heraus wie Periskope und beäugen argwöhnisch alles, was dem Weimarer Geist zu nahekommen kann. Rechter Hand hört weit hinter Erfurt nach wie vor der Inselsberg mit und im Rücken breitet sich das Unstruttal als Thüringer Becken bis Kyffhäuser, Hainleite und dahinter der Harz mit der nächsten großen Antenne auf dem Brocken die Horizontlinie bilden.
Ich kann hier oben stehen und atmen und fühle mich frei und zu Hause. Und wenn ich zum richtigen Zeitpunkt da bin, sehe ich den täglichen Flieger minutenlang in Erfurt landen.
Am Besten öffnet sich dieses wunderbare Panorama, wenn ich von der anderen Seite, von Norden, von Hottelstedt auf das Plateau fahre. Dann gibt es diesen Moment, die Horizontlinie steigt nicht mehr an, sie gibt nun wie ein nach unten gleitender Vorhang den imposanten Blick nach Süden, den Sehnsuchtsort, frei. In diesem Moment setzen in meinem Autoradio die Trompeten von The Lonely Shepherd ein. Wenn das Timing stimmt, ist es ein unglaublich rührendes Erlebnis. Man muss ein bisschen üben dafür.
Das erwähnt luftige Plätzchen wurde zum Millennium mit vier Windkraftanlagen markiert. Beteiligungen waren schon ab 10.000,- DM möglich. »So etwas macht doch kein Thüringer! Ist es nicht schlimm genug, dass die Welt nicht, wie versprochen, unterging?«, sagten die, die die ChristinesDietersundBernhards seinerzeit an die Landesmacht gewählt hatten.
Das Geheimnis um diesen Ort ist nun aufgehoben. Man sieht die Hottelstedter Höhe nun von der Autobahn A4 so überdeutlich, als hätte jemand, um auf sie hinzuweisen, nicht nur einen überdimensionalen Stecken hineingetrieben, sondern gleich vier. Hier ist sie doch! Bist du blind? Hier, hier, hier, hier!
Natürlich reden wir in Thüringen auch immer über einen geschichtsträchtigen Ort. Nur wenige Schritte von dieser Stelle, an der heute vom Wald überwachsenen »Hottelstedter Ecke«, notierte Johann Peter Eckermann am Mittwoch, dem 26. September 1827:
»Die Aussicht von dieser Stelle, in der klaren Morgenbeleuchtung der reinsten Herbstsonne, war in der Tat herrlich. Nach Süden und Südwesten hin übersah man die ganze Reihe des Thüringer Waldgebirges; nach Westen, über Erfurt hinaus, das hochliegende Schloß Gotha und den Inselsberg; weiter nördlich sodann die Berge hinter Langensalza und Mühlhausen, bis sich die Aussicht, nach Norden zu, durch die blauen Harzgebirge abschloß. Ich dachte an die Verse:
Weit, hoch, herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein!
Von Gebirg zu Gebirg
Schwebt der ewige Geist,
Ewigen Lebens ahndevoll.
… ›Ich war sehr oft an dieser Stelle‹, sagte er [Goethe], ›und dachte in späteren Jahren sehr oft, es würde das letztemal sein, daß ich von hier aus die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer noch einmal zusammen, und ich hoffe, daß es auch heute nicht das letztemal ist, daß wir beide uns hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig öfter hierher kommen. Man verschrumpft in dem engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei, wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.‹« (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Frankfurt am Main 1981, Kapitel 274, Mittwoch, den 26. September 1827)
Ja, ich bin Thüringer. Ich esse mit hölzernem Löffel aus einer Vertiefung in der Mitte des Küchentisches. Mein Vater ist Holzfäller und meine Mutter näht in Heimarbeit Knopfaugen an Teddybären für Sonni Sonneberg, mein Bruder ist Weihnachtsbaumglaskugelbläser und meine Schwester hütet Schafe, die uns den Rohstoff für unsere sackartigen Gewänder liefern. Elektrischen Strom kennen wir auch nicht und verschlägt es uns einmal in die Fremde, machen wir uns gegenseitig Mut, indem wir leise die Hymne unserer Heimat anstimmen:
»… irgendwo in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald, nur nach dir.«
Abb. 1-5: Fotos: Jens Kirsten.
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