Von Jens Kirsten
Annerose Kirchner ist unterwegs am Bodensee zu Otto Dix und Hermann Hesse. Die Reise hat sie sich zum 70. Geburtstag geschenkt, um auszubrechen aus dem »Maskensaal« – so der politisch konnotierte Titel ihres zweiten Gedichtbandes von 1989, und zugleich eine Metapher, die unser Leben heute stärker denn je prägt.
Unlängst, zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Landolf Scherzer hat sie einen eindrucksvollen Text über seine und ihre Zeit Mitte der 1970er Jahre beim »Freien Wort« geschrieben, wo sie als Tastomatensetzerin arbeitete, als »Tippse im Acht-Dreiviertel-Stunden-Takt«. Da war sie längst im Begriff, auszubrechen aus den Wortzäunen der sozialistischen Verlautbarungen. Sie bewarb sich erfolgreich zum Direktstudium am Literaturistitut »Johannes R. Becher« in Leipzig, wo es auch nicht ganz ohne Begrenzungsräume abging. Doch dieser mutige Schritt öffnete ihren Denk- und Schreibhorizont, den sie bis heute immer aufs Neue zu weiten versteht. Gegenwärtig plant sie eine Recherche- und Reportagereise nach Russland.
In ihrer Reportage »Ein Brauer aus Meiningen«, die 1976 in Alice Uszkoreits Anthologie »Bekanntschaften« erschien, schlägt sie einen Ton an, der die Leser (bis heute) in ihren Bann schlägt. Lakonisch und doch präzise, einfühlsam ohne aufdringlich zu sein, lässt sie einen Brauer von seinem schweren Berufsalltag und seinem Leben erzählen. Doch zunächst legte sie sich nicht auf die literarische Reportage wie ihr Kollege Landolf Scherzer, sondern sie schrieb Gedichte. Das hat mit der Prägung durch Walter Werner zu tun, in dessen Schreibzirkel sie ging, und mit der Unterstützung Wulf Kirstens, mit dem sie bis heute eine über vierzigjährige Dichterfreundschaft verbindet.
1979 erschien ihr Debütband »Mittagsstein«, 1989 »Im Maskensaal«, beide im Aufbau-Verlag. Damit hatte sie sich freigeschrieben, war in dem wichtigsten Verlag für Gegenwartsdichtung angekommen und aufgenommen. Dann die Zäsur durch den Beitritt der DDR in die Bundesrepublik, die nahezu alle 78 Verlage und den ostdeutschen Buchmarkt in einem Roundup-Schlag wegfegte, um Platz für profillose Buchhandelsketten zu schaffen – die großen Verlage blieben im Westen. Nolens volens fand sie sich auf dem steinigen Weg der Verlagssuche und dem Kampf um literarische Aufmerksamkeit. Nach einigen Künstlerbüchern, die Jens Henkel in Rudolstadt verlegte, dem Entstehen der Künstlergruppe »schistko jedno«, legte sie 1999 den Reportageband »Der Rauspeller« vor, in dem sie, aussterbenden Handwerken auf der Spur, einige der Letzten ihres Standes porträtierte. Er erschien im Buchaer quartus Verlag und fand kaum die Beachtung auf dem Markt, die er bis heute verdient. Die fand sie dann mit ihrem 2010 im Christoph Links Verlag erschienenen Buch »Spurlos verschwunden. Dörfer in Thüringen – Opfer des Uranabbaus«, das in zwei Auflagen erschien. Schaut man auf ihre Bibliographie, entstanden während dieser Jahre immer Gedichte und Gedichtbände, mit denen sich heute jedoch kaum mehr Geld verdienen lässt. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit der Arbeit für die Ostthüringer Zeitung, bei der sie viele Jahre bis zu ihrem Ruhestand für die Kulturseite der Wochenendausgabe verantwortlich war.
Dichten ist kein Brotberuf. Annerose Kirchner ist eine unermüdliche Arbeiterin im Weinberg des Textes. Doch als poetische Weltbetrachterin kann sie nicht anders, als das Erlebte, ihr Geschehende, das von ihr Wahrgenommene zu verarbeiten und poetisch zu reflektieren. Dabei beziehe ich den Begriff Dichterin auch auf die Prosaschriftstellerin, die uns etwa in dem Band »Traumzeit an der Geba« begegnet, in dem sie ihr Erleben einer Landschaft reflektiert, die man sich schöner nicht denken kann. Ich meine das Grabfeld zwischen Thüringen und Franken, das vor ihr schon Friedrich Hölderlin, Helga M. Novak, Walter Werner, Harald Gerlach, Wulf Kirsten faszinierte. Sie alle Gleichgesinnte im Geiste.
Unermüdlich ist Annerose Kirchner unterwegs im »Literaturland Thüringen«. Ob bei Lesungen, auf Recherche oder als Autorin literarischer Exkursionen auf den Spuren von »H. W. Katz in Gera«, einem Juden, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste und im Exil in den USA zwei eindrucksvolle Romane schrieb, von denen einer die Zeit in Gera reflektiert. Sie ist eine, die andere wahrnimmt: wie die Buchhändlerin Rosemarie Züge-Gutsche in Gera oder die Bibliothekarin Andrea Schneider in Zella-Mehlis, die sie porträtierte. Eine, die nicht sich selbst im Mittelpunkt sieht, sondern ihr Gegenüber, die Welt, in der sie, in der wir leben.
Herzliche Glückwünsche zu Deinem 70. Geburtstag, liebe Annerose.
Abb. 1: © Annerose Kirchner, Abb 2: © Martin Gerlach, Abb. 3: Foto privat.
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