Andrea Richter – »Unternehmen Queen«

Person

Jens Kirsten

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens Kirsten

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in "Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2024".

Was uns abhan­den kommt

Von Jens Kirsten

 

Andrea Rich­ters Kurz­prosa kommt auf den ers­ten Blick recht unbe­schwert daher. In Pros­ami­nia­tu­ren wird von einem alten Kla­vier erzählt, von einer Trau­er­feier, römi­schen Män­nern, Kat­zen, einem Zir­kus, einer Traum­hoch­zeit oder Ferien in Grie­chen­land. Neben die­sen Tex­ten sind im Band einige Erzäh­lun­gen ent­hal­ten, etwa zwei auf­ein­an­der­fol­gende über Frau Huth, die ihren Mit­men­schen auf die Ner­ven geht, bis sie stirbt. Über­haupt zieht sich die Ver­ein­sa­mung und das Ster­ben fast leit­mo­ti­visch durch den Band. Beim Ster­ben geht es nicht immer trau­rig zu. In „Trau­er­feier mit Knal­lerb­sen“ erzählt Rich­ter von einer rest­los ver­strit­te­nen Fami­lie, die sich selbst am Grab der Toten nicht ver­söh­nen kann. Schuld sind ihre Lieb­ha­ber, die sich ver­stoh­len unter die Trau­er­ge­meinde gemischt haben. In der titel­ge­ben­den Erzäh­lung „Unter­neh­men Queen“ beschleicht die Hel­din wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges wie eine böse Vor­ah­nung die Angst vor dem Ver­lust ihrer Ein­rich­tung. Sie bit­tet einen Gerichts­voll­zie­her, ein Ver­zeich­nis ihres Haus­stan­des und Ver­mö­gens anzu­fer­ti­gen. Das Haus legen bri­ti­sche Bom­ber kurze Zeit dar­auf in Schutt und Asche. Als sie sich nach Kriegs­ende um Wie­der­gut­ma­chung bemüht, sehen alle in ihr die Ver­schro­bene, der ihr Rea­li­täts­sinn abhan­den kam. Doch sie lässt nicht locker. Ihr Ham­bur­ger Neffe gibt für sie einen Brief an Queen Eli­sa­beth nach Lon­don auf, den diese rein zufäl­lig in einem Sta­pel vom Geheim­dienst aus­sor­tier­ter Schrei­ben ent­deckt. Die Köni­gin ant­wor­tet und ent­schul­digt sich, ihr nicht hel­fen zu kön­nen. Die Macht der Wind­sors sei eine sym­bo­li­sche. Das Geld bleibt aus. Nach ihrem Tod lässt ihr Neffe den könig­li­chen Brief ver­stei­gern. Auf­grund sei­nes skur­ri­len Inhalts erzielt er die mär­chen­hafte Summe, von der Olga bis an ihr Lebens­ende träumte.

Als Kran­ken­schwes­ter, Theo­lo­gin, Pfar­re­rin für Jugend­ar­beit, beim Frau­en­werk der Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kir­che in Thü­rin­gen, im Vor­stand der Frau­en­hilfe in Deutsch­land und in ande­ren Tätig­keits­be­rei­chen hat Andrea Rich­ter über viele Jahre Lebens­stoff gesam­melt. Vor allem Frauen spie­len in ihren Tex­ten die tra­gen­den Rol­len. Einer­seits ver­steht es die Autorin, über ihre sub­ti­len Bot­schaf­ten eine erzäh­le­ri­sche Lako­nie zu legen, die fast so wirkt, als wäre sie ganz unbe­rührt vom Gesche­hen, als bliebe ihr Inners­tes unbe­tei­ligt. Doch weit gefehlt. Andrea Rich­ter lässt ihre Mit­men­schen, sprich ihre Leser, der Frage nach­spü­ren, was unser Gemein­we­sen aus­macht, wie wir mit­ein­an­der umge­hen, was wir uns gegen­sei­tig antun, wel­che Bos­heit in uns steckt und wie es uns doch gelingt, Men­schen zu blei­ben. Die ein­drucks­vollste Geschichte ist die dritte Weih­nachts­ge­schichte des Ban­des. Sie erzählt von der „Anbe­tung der Hir­ten“ im Stall zu Beth­le­hem. „Diese Hir­tin­nen und Hir­ten fin­den Gott im Stall, sozu­sa­gen in der Obdach­lo­sig­keit und als Kind von Frem­den, denn Maria und Joseph sind ja fremd hier, sie kom­men von weit­her.“ Auch die Wei­sen aus dem Mor­gen­land, die Gott im Palast von Jeru­sa­lem suchen, fin­den ihn dort nicht, son­dern im Stall von Beth­le­hem. Die Bot­schaft der Weih­nachts­ge­schichte an uns alle, „dem Kind“, also all jenen, die – bild­lich gespro­chen – an unsere Tür klop­fen, das Not­wen­dige zum Leben nicht zu ver­weh­ren, ist ein zutiefst mensch­li­ches Plä­doyer für Nächs­ten­liebe, seien es unsere unge­lieb­ten oder ver­ein­sam­ten Nach­barn im Haus, in der Nach­bar­schaft oder jene, die aus der Ferne zu uns kommen.

 

Andrea Rich­ter: Unter­neh­men Queen. Kurz­prosa, Weiße Reihe, Band 23, quar­tus-Ver­lag, Bucha 2024.

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