Beate Weston-Weidemann – »Brief an M.«

Person

Beate Weston-Weidemann

Ort

Bad Langensalza

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Beate Weston-Weidemann

»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

All­mäh­lich bei mei­nen Recher­chen ging mir auf, dass alles, wonach ich suchte, hier liegt, im Ver­bor­ge­nen der Zeit; und dass ich mit dem Spiel mit der Abwe­sen­heit anfan­gen kann…

 

Liebe M.,

wie ich dir sagte, hatte ich das Foto gefun­den von Bregazzi.

Nach Erfin­dung der Foto­gra­fie ist Chris­tian Gott­fried Bre­ga­zzi ein Künst­ler. So hat er sich selbst beschrie­ben, so hat er sich selbst defi­niert. Das steht auf der Rück­seite einer Foto­gra­fie und Fer­di­nand ist der Sohn der natur­ge­treuen Geschichte.

Ich dachte nicht, dass so viel an dem Foto liegt. Aber es hat an mei­ner Lebens­weise etwas ver­än­dert, an mei­ner Weise, nach dir zu sehen. Das Herz­stück mei­ner Wiese hat eine Zeit­ge­schichte bekom­men. Ich nehme das Herz mit, wohin ich auch will. Die Foto­gra­fie, dahin zu gehen, wo ich begin­nen will. Was ich noch nicht gese­hen habe, ist die weiß leuch­tende Unstrutbrücke.

Ein beson­de­rer Reiz geht von der Post­karte aber doch aus. Oder ver­wechsle ich da etwas? Von dem Land­strich, der Zeit. Zuerst führt sie mich ein­mal in das Jahr 1891.

Und ist da wer? Eine kleine Gestalt, eine Mehl­schwalbe, der Foto­graf, unsicht­bar dem Betrach­ter. Er steht erhöht, auf Tra­ver­tin, auf hüge­li­gem Vor­der­grund­ter­rain, auf dem Merx­le­ber Kirch­berg; von die­ser hoch­ge­leg­ten Bühne aus, die sich kaum ver­än­dert hat und kaum etwas davon ver­rät, sieht er das freie Gräberfeld.

Eine ver­al­tete Motiv­wahl hat den Betrach­ter bis hier her geführt, eine Nach­hut der Sie­ben­schlä­fer, nach einem Vier­tel­jahr­hun­dert. Der Bru­der­krieg, die feind­li­chen Brü­der, von Kain und Abel bis zu Öster­reich-Preu­ßen. In plan­vol­ler Über­sicht liegt das Alte beim Alten. Das dau­erte eine ganze Staf­fel Gewehr­feuer. Die Spra­che von Sol­fe­rino. Hel­fer eilen her­bei, mit dem Zei­chen des tutti fratelli, um sich so natür­lich aus­zu­wei­sen in einem Gefecht und am Rand der Spra­che. Ver­sor­gen beide Sei­ten. Eine tief­rei­chende Ver­wur­ze­lung in der Acker­börde. Wun­den schreien zum Him­mel. Es muss ziem­lich wüst zuge­gan­gen sein.

Wenn ich auf die­ser Brü­cke mei­nen Kopf ver­liere, höre mir zu: ich denke an Frie­den. Von hier aus mache ich mich selbst auf den Weg.

Was du nicht siehst, ist die über­wun­dene Per­spek­tive. Das Augen­zwin­kern eines Mal­heurs, das Rau­schen eines gang­ba­ren Wegs. Mitte Juli ist das Korn reif. Hier wird er Land­schaf­ter. Ob es nicht doch etwas bewirkt? Eine fried­li­chere, stille Unstru­taue, das Krumm­holz auf­zu­le­sen aus der Niederung.

Trotz der Nässe im Früh­jahr, erzäh­len die Gar­ben von einem Knopf­mus­ter. Hier könn­test du sie lie­gen­las­sen.  Die Küsse und Sträuße, die Leber­blu­men, die wie­der­ge­fun­de­nen Som­mer. Dein Bin­de­garn, wie sie dich auf­ge­rich­tet haben, den abge­ris­se­nen Faden. Das Heft der Jah­res­zei­ten, den „ewi­gen“ Rei­gen; hocken blei­ben. Wen ich grü­ßen will, bist du. Was du aber nicht siehst, ist die Aue, ein links lie­gen­ge­las­se­nes Ufer, worin ich eine Land­schaft sehe.

Im Laub stö­bern, da fällt ein biss­chen Asche von der Hand.

Das Licht fällt ein von Nord­ost. Das lese ich den kal­zier­ten Schat­ten ab, die ein klein wenig ste­hen las­sen von der Erkennt­nis, die sie ihnen abge­wor­fen haben. Ein klein wenig Huma­ni­tät her­um­wir­beln las­sen auf der Via der Frei­heit, ohne den Vor­hang zuzu­zie­hen. Alte Sor­ten spre­chen las­sen, von Spra­che ein­ge­hüllt, von Schwer­kraft und Legen­den, die ein klein wenig stau­big machen.

Auf die Idee kam der Pfar­rer Otte, Obst zu pflan­zen an der Straße und Päch­ter zu bestel­len zu ihrer Pflege und Nach­hut, und wir müs­sen ein biss­chen hier ver­wei­len, an der zäh­flüs­si­gen Unstrut, um ein klein wenig von sei­ner Gewo­gen­heit zu ern­ten, der Lang­sam­keit ohne Beweg­grund. Was noch früh am Tag sein kann. Die Sonne steht noch nicht so hoch.

Es fing alles so gut an. Gleich am Orts­ein­gang traf ich Herrn O. Ich muss dir nicht sagen, dass alle die Namen, die frü­he­ren und die spä­te­ren, hier am Orts­ein­gang mit O. begin­nen, dass ich sie mit O fort­schreibe, O wie Otter und Otto der I.

Der Herr O. war älter als ich und zeigte mir die Stelle, an der die Alte Unstrut­brü­cke gewe­sen sein konnte. Sein Enkel ging mit. Wir einig­ten uns, was das Leuch­ten betrifft, auf See­ber­ger Sand­stein aus der Nähe von Gotha, als sei die Mög­lich­keit einer Mate­rie grauer Tra­ver­tin und Kalk­mör­tel als Fugen­kitt. Wo konnte es Muschel­kalk gewe­sen sein, denn aus dem Erfah­rungs­ho­ri­zont der Inseln, der Oster­mon­tage, der Frei­tage, der Wiedersehen.

Dem Kirch­berg nah und den Fah­ner Höhen, und den Hei­lin­ger Höhen und dem Habicht; und der Hang über dem Päch­ter­stück, durch­schei­nend wie Por­zel­lan und wie ein blauer Saphir hei­ter, brach dar­aus her­vor, als könnte er sich entsinnen.

Chris­tus, Maria und Joseph sind hier vor­bei­ge­kom­men; wenn ich dir das jetzt sagen darf, dass alles auf der Flucht ist, um von der Post­karte, der Land­schaft, der Zeit zu reden.

Die Men­schen, die Tiere, die Bäume, eine Hand­voll Dinge: Stare, Steine, Ech­sen, Bewandt­nisse, um ein paar Hufen Land zu gewin­nen, und ein paar gewohn­heits­mä­ßige Rechte; Jesus­lat­schen, Tro­pen­pass, Aus­weis­pa­piere. Die sie­ben Stu­fen der Kunst mit Frei­heit zu leben und ein paar, die dafür offen blei­ben. Der Arm war bei­sei­te­ge­scho­ben, die Unstrut begra­digt. Es ging wei­ter auf dem Damm.

Soweit das Auge reicht an einem ufer­lo­sen Krei­de­him­mel, der Lauf der Dinge, wovon der Zahn der Zeit spricht und das Lauf­ma­schen­mus­ter regel­mä­ßig zum Über­lau­fen voll ist.

Die Über­bleib­sel einer Weich­holzaue, die ret­ten­den Relikte, Fluss­ufer zum Käm­men, die tief gestrie­gelte Vega, Mut­ters Dach­bö­den, der Holz­kopf, woran man sich fest­hal­ten kann, die lang­sa­men Tage. Ade­bar, sag ich, da ist er schon nicht mehr zu sehen.

Die Pap­pel ist es noch nicht, die von Kanada ausflort.

Es gibt eine Idee, die am Anfang liegt, bei der Baum­wur­zel, dem sprie­ßen­den Etwas. Gedan­ken, die am Anfang noch ein Kind sind und dann Fuß fassen.

Dar­aus aus­ge­schnip­pelt die Lin­den, das Ver­giß­mein­nicht und die Sorge um dich. Es gibt eine Idee aus den Kin­der­ta­gen. Die Ver­wie­sen­heit des Men­schen auf sich. Zurück­zu­keh­ren zu dem, wo du selbst der Mensch bist, der dich wahr­nimmt. Das Allein­sein mit dir, das ein biss­chen kal­zier­ten Schat­ten auf­wirft, Küh­lung ver­spricht. Die All­mende, die den Gän­se­born streift, den Kur­ort in sei­nen Anfän­gen, etwas in den Kopf gesetz­tes, den Frieden.

Die holp­rige Allee einer Begrü­ßungs­for­mel, die Hoff­nung ver­spricht, mit Zeit­geist aus­ge­legt und vor einem Plat­ten­weg scheut: Guten Mor­gen mein Kind, auf Wie­der­se­hen, Flieder!

Gelas­sen­heit in einem Strom, der sich auf­wärts bewegt, in den unzäh­li­gen Atem­zü­gen auf den einen zu kom­men, den Mensch­li­chen. Ein­at­men, um den Raum der Erin­ne­rung wach zu hal­ten, aus­at­men, in dem schmerz­haf­ten Bewusst­sein, dass Zeit vergeht.

Von Kal­len­bergs Mühle her ist ein Bürs­ten­ma­cher unterwegs.

Weißt du, woran du denkst, wenn du nach Hause gehst? An einen lang­sa­men Heim­weg, an die Buche in ihrem Aus­gangs­laub. Weißt du, dass keine Linde mehr steht? Dass der Staub der Zeit sie ver­gäng­lich macht?

Du siehst, dass sich die Land­schaft von hier erhebt, in die Tro­cken­hänge hin­über­glei­tet, Wel­len formt, die Aura eines Brie­fes lupft, eine ganz all­täg­li­che Geschichte, eine Atem­pause mit dir teilt. Eine rit­zende Kie­fer den Son­nen­schirm hält, dass sie sich hier noch nicht zu Wein ent­schlie­ßen kann, das ist die Dis­tel, die Lese der Unstrut. Eine Zeit­lang steht das Leben still.

In der Aue, liegt ein Feld, es ist beschie­nen von Sonnenblumen.

Die Bie­nen­wabe, das kleb­rige Etwas, die Zeit, die uns ver­bin­det. Es ist die Sprache.

Ich war den gan­zen wei­ten Weg von den Nie­der­hö­fen hier­her gegan­gen, für die­sen Ton. Er liegt in den Zwei­gen. Ich habe das fest­ge­macht am Rand der Zeit, zwi­schen zwei Kana­di­schen Pap­peln im Holz. Dort nis­ten die Rei­her, sein, durch eine lange Belich­tungs­zeit geführ­ter Flü­gel­schlag. Darin eine Musik, die zählt.

Deine B.

Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/beate-weston-weidemann-brief-an-m/]