Thema
Christian Rosenau
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
wenn man eine Motte zerdrückt bleibt bronzner Staub an den Fingern, als wäre ihr papierner Leib voll davon. es ist die Dritte. eine hatte ich gleich erwischt, die andere sitzt müde da oben am Vorhang unter der Gepäckablage. diesmal lass ich sie gewähren.
ein Mann mittleren Alters tritt auf, tritt durch die Schiebetür, ist außer Atem. er reist allein. sein Blick mäandert zwischen den Köpfen durchs Abteil, die Strömung zieht ihn zur Mündung eines freien Platzes. am rechten Ärmel seiner Jacke fehlt ein Knopf. er trägt, von seinem Knie gestützt, einen alten Koffer. er bleibt an etwas hängen, kommt aus dem Rhythmus. blickt schräg zurück. beinah rutscht ihm der Koffer vom Knie. er setzt sich und hustet leise. – man blickt hinaus, man blickt hinein –
die Bäume, stroboskopisch, ihre Schatten ein Strichcode im Vorüberfahren. im Fenster, kurz gespiegelt, mein Gesicht. ich erschrecke, schließe die Augen, denke, dass allem, was sie erblicken, ab dem Moment, da sie es erblicken, das Ende bereitet wäre, es bliebe für alle Zeit verloren, das dachte ich schon als Kind. ich versuche an Apfelkuchen zu denken. – nichts.
das Abteil ist voll. die Menschen rings auf Herzhöhe schattenlos – feinkörnige Zerstreuung – beinahe alle displaybeleuchtet von Nabelbildern, Applikationen eines ewigen Frühlingsdufts. und ich halte still, in dieser Wolke, die mich umgibt, aus Hirndampf, Myriaden digitaler Speichel‑, Sperma‑, Seelentröpfchen unter der großen Daten-Abzugshaube. und jeder weiß es, jeder weiß es. und Avatare werden einmal unsre Leben übernehmen, sie werden perfekt sein und in wirklich allem überlegen. sie werden uns einfach ersetzen. dann kommt der große Tag unserer Auslöschung. alle werden da sein. mein geschlechtloses Abbild hat makellose Haut und volles Haar, es tritt hervor, überreicht mir die Urkunde für meine rege Mitarbeit. ich nicke ihm zu, nehme den Umschlag, öffne ihn, starre auf ein leeres Blatt und löse mich auf.
gedankenverschluckt – Schattenmaul des Tunnels – gedämpftes Pulsen der Schwellen. im Fenster nun die ganze Kabine, der Koffer auf dem Sitz – in dieses dotternde Diodenlicht ward ich geboren, plötzlich und ungefragt. es wird heller und alles beginnt sich aufzulösen, durch die Dunkelzotten dieses Felsgedärms, hinausgespült in die Lichtlatrine der Welt – gleißender Aufschlag, Blinzeln. rechts starzt ein Rest Nadelholz bergab, links ein stumpfpockiger Hang. nach der nächsten Biegung noch lichtere Hügel. seit einer Stunde kein Mensch mehr. vereinzelt bucklige Hütten, verwitterte Buden. in die Mulden gestreut ein paar aufgeblähte Kühe im Standschlummer. und wieder eine Schneise. allmählich verebbt das Land, meerlichternd der Horizont, verschwimmt, während die Lider langsam erschlaffen. der Schlaf ist eine Insel. der Schlaf.
ich sehe mich: es war nur ein leichtfertiger, kindlicher Einfall, meine erste Erprobung von Abwesenheit. ich kauerte am Boden von Großvaters Kleiderschrank, über mir das sanfte Klappern der Bügel, mein Kopf zwischen Mänteln, Hemden, und kühl an meiner Wange sein alter Hochzeitsanzug in Zellophan. da war nur die schmale Lichtfuge der Schiebetür. es roch nach Seife und etwas völlig Unbekanntem, Herbem, das mir nach und nach die Luft nahm, das mir mit winzigen Widerhaken ins Gehirn fuhr. es kribbelte, als würden plötzlich tausend klitzekleine Insekten von innen durch Zehen- und Fingerspitzen beißen, ich versuchte mich hastig aufzurichten, stieß gegen die Kleiderstange, schwankte, schob und zog fahrig an der Tür, die sich verhakte, Fingernägel knickten, glitten ab und mein Gesicht knallte wuchtig gegen Tür und Zarge in den handbreiten Spalt, doch ich presste meinen Mund ins Freie, sog gierig die Luft, bis nichts mehr in die Lunge konnte, stemmte mit aller Kraft Fuß und Schulter gegen die Tür. ein Ruck und ich stürzte hinaus, hinaus in die Grabesstille des Zimmers. – da lag ich, während die Zeit verging. aus dem Nachtschrank drang holzwurmig, gleichgültig und leise das Ticken eines Weckers. ich lauschte meinem Atem, spürte den Schmerz, den Puls und die kratzige Auslegware im Gesicht. aus dem Schrank hing ein Ärmel wie ein Darm. ich lag dort eine Ewigkeit und gab es auf. –
vom rüden Ton des Schaffners geweckt, Old Spice umsegelt aus schweißgetränkter Uniform – die Fahrkarte, ihm hingestreckt wie eine Zunge. es klappert am Handgelenk, die rotierende Zange, am Kettchen lässig gefasst, und die Zunge ist entwertet – jedes Sprechen ist auf eine Zeit begrenzt.
knotige Stimmlippen hängen draußen in den Zweigen, Schatten der Sibyllen, Fratzen, zuckendes Geflimmer eben noch, und dann Modulationen – Asphaltwimmern, Wellblechfassaden, eine Farbfabrik, Container und Bottiche, ein halbes Dutzend Auflieger, die an den Zitzen des Gebäudes saugen. der Zug verlangsamt seine Fahrt: ein Bahnübergang, jemand raucht aus dem halbgeöffneten Fenster seines Autos, Schwadenblüten wuchern in die kalte Luft. Zaunlatten rastern, werden schneller, werden Streifen, werden Fläche. der Blick krümmt sich zurück.
schon wieder eine Motte zerklatscht. ihre Farbe hängt von ihrer Nahrung ab. die glänzenden Flügel sind ausgefranst, geradezu bewimpert – zuckende Flügellider. ob sie sich hier eingenistet haben?
unförmige Eigenheime ziehen auf, in grellen Farben, dass man sich abwenden will. runde Fenster, eckige Fenster wahllos in dieselbe Fassade gestanzt. und allseits Koniferenhecken, hinter denen Trampoline lugen, dann wieder eine Linie, von Rasenteppichen gesäumte Flachdachquader, satanische Kuben. Buchsbaumkugeln, pragmatisch vorm Eingang. und Garagen, Garagen, Garagen.
Hauptbahnhof von E., ohne Verspätung. der Zug fährt langsam ein.
nervöses Geschiebe der Leiber im Gang. die Schwere zieht in Fahrtrichtung. beide Hände am Koffer. ich stehe an ein Fenster gelehnt – poröse Bauten, dann Stahlträger, mit Taubenkot vernieteter Jugendstil. man kann von hier aus auf den Bahnhofsvorplatz sehen: die breitbeinigen Schilder – Eingemachtes im Angebot. vorm Bäcker, die leeren Tische, auf die die frühe Stunde das Licht serviert, mit großer Geste, die Plastikstühle, aneinandergekettet wie wackre Gegendemonstranten.
der Zug steht. mit langgezogenem Zischlaut öffnet sich die Tür. Gedränge ins Kühle. auf dem Bahnsteig dröhnt es in die Ohren, dröhnt in die Augen, hämmert, Lärm von Zugmotoren, Druckentladungen, es klingelt, schrille Stimmen, Rufe, Pfiffe. ferner quietschende Züge, und noch entfernter: Baulärm, ein Presslufthammer stichelt. Dreiklangläuten – Anschlusszüge werden durchgegeben, vielsprachig, von anderen Gleisen babelt es herüber. hundsgesichtig zieht der Menschenstrom dahin. ich nehme Zuflucht hinter einer Reklametafel. schließe die Augen, lausche meinem Atem.
wann war ich jemals hier als Mensch? –
der Bahnsteig leert sich, der Strom fließt ab, durch den Siphon der Gänge, strudelt hinunter in die Halle. der Zug wartet noch immer.
es zieht mich plötzlich zurück, als suchte ich, wie Jonas, den Wal. ich steige ein, den Koffer umklammert, setze mich wieder auf meinen Platz, als ob nichts gewesen wäre. der Zug fährt an.
andere Gesichter, aber der knopflose Mann ist noch da. er kramt einen Brief hervor. er zieht ihn aus einem unverschlossenen Umschlag, faltet ihn langsam auf und liest. sein Mund öffnet sich einen Spalt. das Papier ist abgegriffen, er scheint ihn schon oft gelesen zu haben. seine Hände zittern. er sieht eine Weile über das Blatt hinweg, sieht mich an, schaut hindurch, schlägt es ein, steckt es zurück in die Innentasche – er wird verschwinden.
der Teewagen klirrt durchs Abteil. macht Halt bei einer Bestellung, zwei Reihen voraus. Kaffee wird ausgeschenkt, Plastikhauben auf die Einwegbecher, Wechselgeld – wohl bekomm’s. ich wende mich ab, der Wagen schiebt vorbei und verklimpert allmählich.
und ich stelle mir vor, ein Mann stiert auf ein leeres Blatt. er stellt sich vor wie er am Morgen als ein anderer neben seiner Frau erwacht, wie er behutsam das Kind weckt, die Frühstücksbrote schmiert, wie er ihm zum Abschied übers Haar streicht und winkt, und später ruhig seinen Mantel nimmt, die Schuhe bindet, gelassen die Treppe hinunter
auf die Straße tritt und geht, ohne sich ständig umzusehen, ohne im Kopf sich seiner Notiz zu versichern, dass er nun die Straße entlang geht. ein Vorgang streng auf ein Ziel gerichtet. ein Gang zu einer Arbeit, ins Büro etwa, mit einer Tasche unter dem Arm. ohne dass er jemals stehen bliebe vor einer Leuchtspur, einem funkelnden Narbengewebe im Beton, renitente grüngilbe Grasdurchbrüche direkt neben der Fußgängerampel, die über die Vierspurige führt. ohne dass er niederkniete und verharrte, dort vor den knötrigen Halmen, die im Luftzug der vorüberfahrenden Autos tanzen, mit leichter Drehung hin und zurück, in der Stille des Geräuschs, hin und zurück den lieben langen Tag. nein, er selbst brächte es nicht so weit, er stünde stundenlang und dächte, wenn aller Augen am Ende, wässrig geworden, langsam aus den Höhlen flössen, in all den Farben, die das Licht ihnen je bereithielt, und aus den ausgewaschnen Schädeln wüchsen solche Halme, aus mandelgroßen Gallerten, sie wiegten hin und zurück…
es ist leichter, die Einsamkeit zu suchen, als wirklich allein zu sein, dachte er schon früh, denke ich, glückloses Suchen, Hadern und Zaudern, wenn sich die Zustände verhärten über die Jahre, ins schwächere Gewebe schleicht es sich ein, in die Nischen des Körpers, des Denkens, des Fühlens, bis in jeder Gebärde das Scheitern sich zeigt, verhärtet und steif. –
der Schaffner geht tatsächlich an mir vorüber. ich werde weiterfahren.
die Motten sind nicht zu sehen. sie hocken dort irgendwo im Dunkeln, in den Falten und Ritzen der Polster. sie paaren sich nachts, legen ihre Eier nachts. ein Teil wird bleiben und der andere sich an die Reisenden heften, an ihre Mäntel und Hosen, an ihr Gepäck, und hinausgetragen werden in die Städte, in die übervollen Häuser und Wohnungen, in die übervollen Schränke, kopulieren, Eier legen, sterben und schlüpfen, wieder fressen in den hintersten Winkeln, in aller Ruhe fressen, in den unbewegten Kisten auf Dachböden, in Kellern. fressen, schlüpfen, fliegen, paaren, sterben. dasselbe Spiel seit abermillionen Jahren. bis alles zerfressen ist. und wenn alles zerfressen ist, bleibt auch von uns nur der unselige Rest aus Kadavern, Exkrementen und unsern Hinterlassenschaften in der Luft, in
der Erde, am Grund des Meeres. der Stein ist geworfen, der Busch ist verbrannt. Rauch, verweht von den Schloten, den Mündern und Köpfen, lichtwärts verkohlt. und wer würde noch erzählen: unbemannt gingen Missionen ins Erbgut, und die Nanoplaneten vibrierten, und Platon hätte gesungen, und die Doppelhelix-Obertöne hätten alle mitgeschwungen in einem Pipettentraum, in dem nackte Laboranten bacchantisch tanzten um ihren Drittmittel-Bescheid, und die Reagenzgläser kreisten, die Hybris, die Zellkerne kreisten wie Galaxien, kreisten auf Platinen in den Servern, Kühlanlagen, die Asche kreiste über Brandrodungen, die Asche, die Gier, die Lust in den Spiegeln, die Schwermut in den Spiegeln, die Angst vor Verlust, vor dem Tod, dem jeder doch entgegenatmete seit Anbeginn, unaufhörlich, in den Schlachthöfen kreisten die Schweinehälften, Rinderhälften, Tag und Nacht, die Müllberge kreisten, Plastikkontinente kreisten in den Strudeln unter der Wasseroberfläche, Frachter, Flugzeuge, Förderbänder kreisten rund um die Uhr, rund um die Welt, in den Werkshallen, Fabriken, Industrieparks, kreisten in Mündern und Köpfen, unaufhörlich, kreiste radioaktiver Müll in der Luft, in der Erde, am Grund des Meeres und tonnenweise Schrott in der Umlaufbahn und kreist und kreist bis ans Ende aller Tage – –
da ist noch bronzner Staub an meinen Fingern, ich werde weiterfahren.
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