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Klaus Manger
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Klaus Manger
Kein deutschsprachiger Autor hat uns in solcher Vielfalt an Themen und Formen vor Augen geführt, welche Bedeutung für die Selbstregulierung des Einzelnen sein Unterscheidungs-vermögen hat, wie Christoph Martin Wieland (1733–1813). Und keiner hat das so konzis in einem komisch satirischen Roman zur Darstellung gebracht wie der Autor der Abderiten. Zuerst veröffentlichte Wieland diesen Roman als einen der frühesten Fortsetzungsromane in seiner Zeitschrift Der Teutsche Merkur 1774 bis 1780. Im Jahr 1781 erschien er dann in zwei Bänden, eingeteilt in fünf Bücher, unter dem Titel Geschichte der Abderiten, wobei ihn Wieland mit einem Schlüssel zur Abderitengeschichte ergänzte.
Im Ersten Buch dieser Narrengeschichte, die sich deutlich vom Episodischen der Schildbürger oder Laleburger entfernt, tritt bereits zutage, welche Wahrnehmungs-schwierigkeiten die Abderiten im Umgang mit der Natur haben, von der ihnen ihr naturerfahrener Landsmann Demokrit berichtet. An seiner Empirie brechen sich die von ihnen freimütig bekundeten Ideen. Als sie deshalb auf Heilung des vermeintlich wahnhaften Demokrit sinnen, verfallen sie darauf, Hippokrates, diesen sprichwörtlichen Arzt der Antike, zu Hilfe zu rufen. Der aber erkennt bei der ersten Begegnung mit ihm sofort, wer hier der Heilung bedarf, auf keinen Fall jedoch sein neuer Freund Demokrit. Deshalb verordnet er den Abderiten das von Horaz her bekannte, satirische Kraut der Nieswurz in Schiffsladungs-menge. In ihrer Theaterbesessenheit jubeln sie einem Stück auf der abderitischen Nationalbühne zu, das nach dem Urteil von dessen Autor Euripides, der zufällig der Aufführung beiwohnt, nichts mit seinem Werk zu tun hat. Als er es in eigener Regie auf ihr Drängen hin auf die Bühne bringt, jubeln sie erneut. Unterschiedslos pochen sie nun auf des Euripides Autorität.
Nach diesen Exempeln, die im ersten Teil des Romans am Umgang mit den Kosmopoliten Demokrit, Hippokrates und Euripides statuiert werden, bleiben die Abderiten im zweiten Teil unter sich. Ihr Abderitismus erweist sich vollends als Widerpart des Kosmopolitismus. Das juristische Exempel im Vierten Buch beruht auf einem Mietstreit. Kann der Vermieter eines Esels für dessen Schatten, in dem sich der Mieter in der Mittagshitze ausruht, separat Miete verlangen? Aus der Eskalation dieser Streitsache erwachsen zwei Parteien, die die Narrenpolis in die „Esel“ und in die „Schatten“ spaltet. Anstatt zu erkennen, in welchen Fanatismus sie sich verrannt haben, zerreißen die Einwohner dieses „thracischen Athens“ in ihrer angestauten Prozeßwut den zufällig um die Ecke biegenden Esel, der dadurch aus der komödiantischen Disposition heraus zum Tragödienopfer wird. Ein theologisch begründetes Spektakel setzt dem Narrenvolk im letzten Buch die Krone auf. Die in Abdera überhandnehmende Froschplage läßt sich auch nach noch so spitzfindigen Erwägungen nur dadurch lösen, daß der Archon Onokradias (soviel wie ‚Eselsfürst‘), weil er glaubt, die der Stadtgöttin Latona heiligen Frösche schützen und dadurch den Zorn der Götter beschwichtigen zu müssen, die Bewohner zum von ihnen freudig angenommenen Exodus aufruft. Ist das Schicksal des Esels zu bedauern, so das der unantastbaren Frösche zu preisen. Während sich infolge dieses Auszugs die Narren aitiologisch in alle Welt verlieren, geht die Ursache dafür beinahe völlig unter. Wer jedoch genau gelesen hat, kennt die mythische Herkunft der Frösche. Denn als in der Vorzeit Latona mit ihrem Zwilling Apollo und Aphrodite schwanger ging, hatte sie die lykischen Bauern darum gebeten, ihren Durst aus ihrem Teiche löschen zu dürfen. Da sie ihr den Wunsch versagten, verfluchte sie sie und verwandelte sie in Frösche. Diese einst Verfluchten aber hatte die Dogmatik unterdessen zu Heiligen erhoben, zu deren Schutz die Abderiten nun das Weite suchten. Damit war aus theologischem Kalkül das abderitische Schicksal besiegelt worden. Und das Gemeinwesen endet in diesem Gesellschaftsroman auf absurde Weise in der Selbstaufhebung.
Stand traditionell die Theologie an der Spitze der Wissenschaften, so stellte Wieland, der die Universität aus den Erfurter Erfahrungen von innen kannte, satirisch auf den Kopf. Nach den Auseinandersetzungen mit Natur, Heilkunst, Schauspielkunst und Jurisprudenz hat das dogmatisch theologische Kalkül das letzte Wort. Wenn man, was die Abderiten auszeichnet, Dummheit nennt, so sagt das zum einen, wie unentwickelt ihr Unterscheidungsvermögen ist, das, was bei Kant Urteilskraft heißt. Zum anderen schärft es die Urteilskraft des Lesers, den das närrische Beharrungsvermögen der Abderiten Staunen macht. Das freilich geht auf das Konto dieser satirischen Narrenbibel, die insbesondere in den Widerlagern von Eseln und Schatten der Onoskiamachie (‚Eselschattenkampf‘) sowie von Batrachophagen (‚Froschverzehrern‘) und Batrachosebisten (‚Froschverehrern‘) mit aller sophistischen Spitzfindigkeit auslotet, was an Absurdität nur schwer zu übertreffen ist.
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