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Dietmar Jacobsen
Erstdruck in: Palmbaum 1/2023. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Dietmar Jacobsen
Wer hat den Osten erfunden?
In der F.A.Z. vom 4. Februar 2022 publizierte der aus Gotha stammende Leipziger Professor für Neuere deutsche Literatur Dirk Oschmann einen Artikel unter dem Titel »Wie sich der Westen den Osten erfindet«. Die sich in Leserbriefen daraufhin einstellenden Reaktionen waren gemischt, zu einem nicht geringen Teil aber ablehnend. Das reichte von der Bewertung des Textes als »frustrane Reanimation von jahrzehntealten Ressentiments und Klischees« über die Vorhaltung, es handele sich bei dem Aufsatz um nichts anderes als »eine peinliche nachträgliche Verzerrung […] des Deutschlandbildes in West und Ost« bis hin zum Vorwurf, hier beklage ein im Osten geborener Autor »die Unkultur einer von Westdeutschen ausgeübten Diskursherrschaft als Wurzel ostdeutschen Unmuts«.
Bellten da getroffene Hunde? Oder war Oschmann wirklich zu weit gegangen? Das jetzt erschienene Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« vesteht sich zum einen als Fortsetzung und Vertiefung jener 2022 begonnenen Diskussion. Zum anderen darf man es aber auch lesen als Erwiderung auf all jene kritischen Stimmen, die vor Jahresfrist behaupteten, dass der Verfasser des F.A.Z.-Artikels »einer spezifischen ›Ost-Identität‹ das Wort reden würde«.
Dem setzt Oschmann entgegen, dass es ihm um »Des-Identifizierung« gegangen sei und der gegenwärtige krisenhafte Zustand unserer Demokratie nicht zuletzt aus den »seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens« resultiere. Dass der Autor bei seinen Einlassungen als »Laie« verstanden werden will, »dessen Expertise lediglich darin besteht, seit langem teilnehmender Beobachter zu sein«, tut der Vehemenz seiner Argumentation dabei keinen Abbruch.
Um seine These zu untermauern, koppelt Oschmann »Autobiographie und teilnehmende Beobachtung« dergestalt, dass er auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise (Osten und Westen, Ostdeutsche und Westdeutsche) setzt und die Situation 30 Jahre nach dem Beitritt und nicht jene der 90er Jahre in den Blick nimmt. Dabei sieht Erstere nach wie vor traurig genug aus, lautet der das Buch grundierende Befund. Denn immer noch seien die Unterschiede zwischen West und Ost gravierend, dominiere ein Deutschlandbild die aktuellen Diskurse, das vor allem westlich geprägt sei und deshalb »zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht« den Osten nur als Abweichung von der Normalität wahrnehme. Wo aber solches geschehe, dürfe sich niemand wundern, wenn das östliche Selbstbewusstsein sich mehr und mehr aus einer Vergangenheit speise, die madig zu machen westliche Interpreten nicht müde würden.
»Zum ›Deutschen‹ wird man als Ostdeutscher […] erst im Ausland«, heißt es an einer Stelle zugespitzt. Und natürlich taugen Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, Büchner-Preisträger Durs Grünbein und Fußball-Nationalspieler Toni Kroos, denen Dirk Oschmann zugesteht, zumindest auf europäischer Ebene als Deutsche – und nicht lediglich als Ostdeutsche – wahrgenommen zu werden, nur bedingt als Beispiele einer gelungenen Integration. Was freilich die große Mehrheit der nach 1990 zunehmend »frustrierte[n] Zufriedene[n]« (Steffen Mau) angeht, sieht die Sache anders aus. Denn weder ist es in den letzten mehr als 30 Jahren gelungen, Gehälter und Renten in den fünf neuen Ländern denen im Westen Deutschlands anzugleichen, noch hat sich die Zahl der im Osten Deutschlands Geborenen, die eine mehr als marginale Verantwortung für den Gesamtzustand unseres Gemeinwesens tragen, in den letzten Jahren merklich vergrößert. Eher das Gegenteil scheint der Fall, seitdem mit Angela Merkel und Joachim Gauck zwei Ostdeutsche, die unseren Staat an hervorgehobener Position vertraten – ohne dass sie ihre Herkunft im Laufe der jeweiligen Amtszeit allzusehr in den Vordergrund stellten – ihre Verantwortung weitergaben.
Wenig hilfreich ist für Oschmann in diesem Zusammenhang auch die Existenz eines Ostbeauftragten der Bundesregierung. Sie kritisiert der Autor ebenso wie die Tatsache, dass eines der größten und angesehensten deutschen Journale, die Hamburger »ZEIT«, wöchentlich Extraseiten für ihre Leser östlich der Elbe publiziert, die in den Ausgaben, welche man in Frankfurt, Stuttgart oder München zu lesen bekommt, nicht enthalten sind. Denn beides unterstreicht ja nur, dass es sich aus westlicher Sicht bei dem, was man einmal die »neuen Bundesländer« nannte, um Landstriche handelt, die auch drei Jahrzehnte nach dem Beitritt noch einer besonderen Fürsorge durch jene bedürfen, die schon immer dabei waren und folglich ihrer Meinung nach auch den besseren Durchblick besitzen.
Oschman ist mit seinem Buch eine in dieser Schärfe noch nicht dagewesene Einlassung auf ein Problem gelungen, das im Osten unseres Landes anders wahrgenommen wird als im Westen. Vielleicht formuliert der Autor hier und da ein wenig zu scharf – aber er will ja auch verstanden werden. Und nicht nur das: Solange sich nichts daran ändert, dass der Osten in den meisten öffentlichen Verlautbarungen lediglich als »Aussageobjekt« und nie als »Aussagesubjekt« vorkommt, prophezeit der Autor einen weiteren Anstieg jener »Bockigkeit« östlich der Elbe, die weder den einen noch den anderen wirklich bekommt, sondern nur eine gemeinsame und gleichberechtigte Entwicklung behindert. Gleichberechtigung aber bedeutet nicht zuletzt, dass es so, wie es bisher war nicht bleiben kann: »Der Westen […] hat gedacht, er müsse sich nicht ändern und könne einfach Westen bleiben, während zugleich der Osten natürlich Westen werden sollte, obwohl im selben Moment alles dafür getan wurde, ihn erst eigentlich zum ›Osten‹ zu machen.«
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