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Dietmar Ebert
Dietmar Ebert / Thüringer Literaturrat e.V.
Gelesen von Dietmar Ebert
Im Museum für misslungene Unterlassungen und anderswo
Im vergangenen Jahr ist Dominik Dombrowskis vierter Gedichtband ICH SAGE MIR NICHTS bei edition AZUR erschienen. Er enthält 23 narrative Gedichte, die sich fast subversiv traditioneller Literaturkritik verweigern. Die ideale Rezeptionshaltung wäre, auf einem stillgelegten Bahnhof sie wieder und wieder zu lesen und zwischendurch einen Schluck aus der Bierflasche zu nehmen, während der Zug nach Nirgendwo auf sich warten lässt. Vielleicht keimte nach mehrfacher Lektüre eine leise Ahnung auf, welche neuen Pfade der Dichter in seinem schmalen Band betritt und wovon er in seinen Gedichten erzählt.
Ich sage mir nichts: Die Worte dieses Satzes können, wie auf dem Cover graphisch hervorgehoben, viermal unterschiedlich betont werden. Damit spielt Dominik Dombrowski. Er lauscht der äußeren und inneren Wirklichkeit nach, gewinnt den Bildern, die er wahrnimmt, den Träumen, Räuschen, dem Schlaf-und Halbschlaf Substanz ab, findet Metaphern und Beschreibungen für sie und rundet sie zu fragmentarischen Geschichten.
Seinen Gedichten hat er ein Motto des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Tomas Tranströmer vorangestellt: Ein Pfad, der hinter jedem Schritt wieder zuwächst.
Und tatsächlich führen diese Gedichte Schritt für Schritt in unkartierte Regionen. In einem Moment stets gefährdeter Ruhe verfließen äußere Realität und Gedachtes, Geschautes oder Halluziniertes zu einer fremden, bisweilen absurden Realität. Im Gedicht DIESLAND fragt das lyrische Ich seine Nachbarin Norma, die ausgerechnet so heißt wie die Oberpriesterin der Druiden und eine Lebensmittelkette: Ist das wahr?/Ein Gartenzwerg aus Fleisch und Blut?
Eine verbale Antwort gibt Norma nicht, doch:
Norma lächelt den Sternen zu/Die meisten davon sind Flugzeuge.
Die poetische Wahrheit wird in der Schwebe gehalten und zum Schweben gebracht.
Der schmale Band beginnt mit einem Prolog: Entwegt.
Entwegt ist wohl das Gegenteil von unentwegt, von etwas, was in ständiger Bewegung ist. Wenn dem so ist, dann ist ein entwegter Zustand wohl ein Ruhezustand oder vielleicht sogar ein Moment stillgestellter Zeit. Ebenso deutet
„entwegt“ auf die wieder zugewachsenen Pfade. In diesem Gedicht imaginiert der Dichter ein lyrisches Ich und ein lyrisches Du, die nach hundertjährigem Schlaf wieder erwachen und auf ihre jetzige und einstige Existenz blicken:
irgendwo gegenüber/brennen Tag und Nacht/
ein paar Lichter im Museum/ für misslungene Unterlassungen.
Bereits in seinem Prolog-Gedicht überträgt Dominik Dombrowski ein erzählerisches Verfahren ins Gedicht. Er lässt sein lyrisches Ich einen Zeitpunkt außerhalb des eigenen Lebens einnehmen, katapultiert es in eine ferne Zeit und an einen fernen Ort. Das ist in der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts und in der Musik ein geläufiges Verfahren. So lässt Gustav Mahler den „Helden“ seiner 9. Sinfonie zumindest im Kopf-und Finalsatz von einem Punkt außerhalb seines Lebens musikalisch erzählen. Für die Dichtung ist die Verlagerung des „Erzählstandpunkts“ ein eher ungewöhnliches Ereignis.
In Norma wird mit feiner Selbstironie das Spiel mit der alten, erblindenden Katzendame beschrieben:
bevor wir uns abhanden kommen
fängt uns Gustav Mahler um den Küchentisch und wir ruhen
in einem stillen Gebiet/lauschen
wie der Sphinx & der Säulenheilige
bis zum Ende der Musik dem Ende der Musik
Dominik Dombrowski spielt in diesen Versen mit dem 1901 von Gustav Mahler vertonten Friedrich-Rückert-Gedicht Ich bin der Welt abhanden gekommen,
in dem es heißt:
Ich bin gestorben dem/Weltgetümmel, /Und ruh‘ in einem stillen Gebiet!
Ich leb‘ allein in meinem Himmel, / In meinem Lieben, in meinem Lied!
So wie es Mahler komponiert und zu einem poetisch-musikalischen Höhepunkt der Romantik geführt hat, kann dieses Der-Welt-abhanden-Kommen und In-einem-stillen- Gebiet-Ruhen immer wieder zum Kraftquell einer poetischen Existenz werden. Wenn sich etwas davon in diesen narrativen Gedichten findet, dann ist es die Abkehr des lyrischen Ichs von allem Nützlichkeitsstreben und eine Hinwendung zu Menschen, Tieren und sich selbst, die sonst außerhalb des dichterischen Blicks bleibt.
So erzählt Innerhalb der entstehenden Schildkrötenpanzer von einem Besuch des lyrischen Ichs bei sich zu Hause, wo es sich begegnet und sieht, wie es aus Holz Schildkrötenpanzer schnitzt. Hätte es, so sein Kommentar, einen Schrank aus Speckstein gehabt, so hätte es vermutlich einen Aschenbecher gefeilt.
Geradezu leitmotivartig wird die Pointe gesetzt:
Im Museum für misslungene Unterlassungen
dort werde ich mich dann
beizeiten mit mir
treffen
Manchmal ist ein Nachhauseweg von der Tankstelle, eine Selbstbeobachtung, eine Fernsehsendung oder eine Radiomeldung der Ausgangspunkt eines Gedichts, manchmal beginnen Gedichte, wie Die Frau die mir zu trinken gibt, Substanzen oder An meinem Ende der Welt bereits mit einem absurden Satz, der wundersam fortgesponnen wird, und so entstehen lyrische Erzählungen, in denen das Unmögliche wirklich wird.
Auch in dem Gedicht Die Sankt-Martin-Vision wird das Unmögliche dichterische Wirklichkeit. Das lyrische Ich gerät auf dem Weg von der Tankstelle in einen Lampion-Umzug am Sankt-Martins-Tag und hat plötzlich einen imaginären Sohn an seiner Seite, dem er das alte Kinderlied singt: Da oben leuchten die Sterne/hier unten leuchten wir. Ja, irgendwann passiert es dann eben: Der Vaterkopf hängt am Laternenstab, und der imaginierte Sohn läuft mit dem Vaterkopf ins Büro von dessen Firma, und der Vaterkopf kann nicht anders, er singt den Beatles-Song: Strawberry fields forever/Strawberry fields forever. Um das Büro, das einem Glaskasten gleicht,
formieren sich Gabelstapler zu einem Chor und singen das Laternenlied, während der Vaterkopf am Laternenstab nicht aufhören kann zu singen: Strawberry fields forever. Schließlich erscheinen Wichtelmännchen, mehr und mehr von ihnen,
und beginnen mithilfe krebs-/erregender Pasten alles/mit Pieter-Breughel-Geschenkpapier/unter sich zu begraben.
Auch diese Sankt-Martins-Vision gehört ins Museum für misslungene Unterlassungen wie wohl auch jene absurde Idee eines Hydrogeologen, der dem lyrischen Ich auf einem Kreuzfahrtschiff erzählt: Kohlendioxyd/könnte in die gasdichten Erdschichten/unter die Stadt gepumpt und so Venedig/um gut dreiundzwanzig Zentimeter angehoben werden/das entspräche einem Niveau wie vor hundert Jahren.
Auch wenn Dominik Dombrowski auf dem Cover seines neuen schmalen Bandes in vierfacher Betonung ICH SAGE MIR NICHTS beteuert, so ist ihm auf nicht einmal 70 Seiten etwas Großes gelungen: Er hat der ungeordneten Sprache der inneren Realität, den Träumen, Visionen, Bildfetzen, Gedankensprüngen im lyrischen Narrativ eine innere Ordnung verliehen. Die Leser müssen ihr nicht folgen. Lassen sie sich aber auf sie ein, werden sie reich belohnt.
Nigel ist vielleicht das wundersamste der narrativen Gedichte und beschließt den Band. Das Radio berichtet von einem Experiment, das Naturwissenschaftler auf einer einsamen neuseeländischen Insel gestartet hatten.
Um echte Tölpel, diese seltenen Seevögel, anzulocken, hatten sie achtzig Beton-Attrappen auf der Insel aufgestellt, in der Hoffnung, eine Kolonie zu begründen. Doch nur einer war gekommen, den die Forscher Nigel nannten. Er bemühte sich um eine Beton-Partnerin und baute ein Nest für sie beide. Als es nach Jahren den Forschern mit Lautsprechergeräuschen gelungen war, weitere Tölpel anzulocken, interessiert sich Nigel nicht für sie. Er bleibt seiner Beton-Partnerin treu. Als sein lebloser Körper im Nest aufgefunden wird, ist das den Forschern eine Radio-Meldung wert.
Diese seltsame Geschichte scheint das Wahrnehmungsvermögen des lyrisch-erzählenden Ichs zu verändern:
Ich denke an Nigels zitterndes Federkleid
in seinem windigen Nest
an all die Weite um ihn und an die majestätische Ruhe
an das große schweigende Meer
an seine zeitlose Geschichte
an meine Zigaretten erinnere ich mich auch
plötzlich zurück als käme ich von weiter weg
wieder hierher
An dieses Fenster
weil ich etwas entdeckt zu haben glaube
etwas staubgelben Wein im Glas
und ein gespreiztes Buch
und darin irgendeine Stelle
die ich seit gestern um jeden Preis habe
im Gedächtnis behalten wollen
Es sei empfohlen, wieder und wieder Dominik Dombrowskis Gedichtband ICH SAGE MIR NICHTS zur Hand zu nehmen, ein paar von seinen narrativen Gedichten zu lesen, sich in absurde Welten versetzen zu lassen oder sich einfach nur dem hinreißenden Sound seiner Gedichte zu überlassen. Wer Mahlers Musik dazu hören mag und sich in Gesellschaft einer musikalischen Katze befindet, ist natürlich im Vorteil, doch auch alle anderen sind eingeladen, die poetische Welt Dominik Dombrowskis zu erkunden. Als höchste Belohnung winkt ein Besuch im Museum für misslungene Unterlassungen!
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