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Marie Annett Moser
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Marie Annett Moser
Vier Stufen zur Bewusstseinserweiterung
Emma Andreas Erdling führt ein passives, aufgesetztes Leben als Lifestyle-Linke, die sich auf Social Media inszeniert und ein Linkssein zelebriert, von dem sie nicht mehr weiß, was es bedeutet. Es ist eine von vielen leeren Phrasen in ihrem Leben geworden. Auch ihre Privatdetektei, gesponsert von Großtante Klara, fügt sich in ihren Lebensstil, denn einen Auftrag will und erwartet Emma eigentlich gar nicht. Nach einem Instagram-Post, der ihren mühsam aufgebauten Ruf auf der Plattform ruiniert, muss sie sich mit ihrem realen Leben auseinandersetzen. Im Folgenden durchläuft sie einen Transformationsprozess, der immer fantastischer und unerklärlicher wird.
Der Antiquar Cosmo wird ihr zum Freund, der neue literarische Horizonte öffnet. Als Emma Andreas von ihm unveröffentlichte Schriften von Karl Marx erhält, entführt sie die Lektüre auf eine Zeitreise und mitten in eine Versammlung, auf der Marx selbst spricht. Dieses Erlebnis rückt ihn, den Erdling auf Social Media gern zitierte, aufgrund seiner antisemitischen Äußerungen in ein vollkommen neues Licht. Erdling beginnt, an vertrauten Bildern zu zweifeln. Die Protagonistin nimmt ihre Leser:innen mit auf weitere Zeitreisen. Was sie dabei erlebt, stellt die vernünftige Ordnung und unser Verständnis von den Zusammenhängen der Welt in Frage. Für Erdling ist das ein Ausrutschen in der Realität. Bis sie begreift, dass sie es war, die die Realität bislang falsch interpretierte.
Dieser Bruch mit den ihr vertrauten Wahrheiten wird durch Erdlings ersten Detektiv-Auftrag in ungeahntem Maß beschleunigt. Ihr erster Kunde ist ausgerechnet Oskar Lafontaine, der sie bittet, die von Aliens entführte Sahra Wagenknecht zu finden. Nun beginnt eine Reise, auf der Emma Andreas sich im deutschen Kaiserreich, der Zwischenkriegszeit und im beginnenden Nationalsozialismus bewegt. Dabei begegnet sie Vertretern der Vril-Gesellschaft, die davon träumen, unter der Erde eine neue Menschenrasse zu züchten. Erinnert Sie das an Verschwörungstheorien der Gegenwart?
Emma Andreas hält zunächst an ihren altbekannten Welterklärungen fest. Wie aus dem Nichts taucht plötzlich Angelika auf und heftet sich an ihre Fersen, um sie durch Raum und Zeit zu führen. Mit dem Ziel, Erdlings Horizont zu erweitern, klärt Angelika sie dabei über die verschiedenen Grundsätze des Quantenuniversums auf.
Wirkt der Roman auf oberflächlicher Ebene erst kryptisch und überspitzt, wird schnell der eigentliche Tiefgang klar, denn auf ihren Reisen durch das Raum-Zeit-Kontinuum werden vielseitige Themen berührt. Das gilt gleichermaßen für reale Zeiten und Personen, wie für verschiedene fiktive Räume und kosmische Utopien. Was ist Deutschsein und was macht uns zu einer Gesellschaft? Die Suche nach der Entführten wird so zu einer Reise durch die Geschichte deutscher Mentalität. Dabei geben ihre Anspielungen auf Erzählungen wie „Der Traum vom Mond“ (Johannes Kepler, 1609) die Planetenfahrt „Aetherio“ (August Niemann, 1909) und die fantastischen Erzählungen Paul Scheerbarts einen Blick auf verschiedene Utopien von Gesellschaft und zeigen, wie pluralistisch und kreativ diese Zukunftsvorstellungen waren. Braslavsky arbeitet hier an Erzähltexten, die wir zu großen Teilen aus unserem Kanon gestrichen haben – genau deshalb macht ihr Buch Lust, sie wieder zu entdecken.
Im Verlauf des Romans wird deutlich, dass es in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem Bruch in dieser Mentalität kam. Die Autorin fragt, warum ausgerechnet das Verhältnis zwischen Deutschen und Außerirdischen so distanziert und beinah kontaktfrei bleibt, doch eigentlich geht es um die Suche nach der Verengung unseres geistigen Horizonts. Dabei zeichnet Braslavsky eindrücklich nach, wie aus Offenheit gegenüber dem Fremden Verschlossenheit wurde. Erdlings Reise in die Vergangenheit wird so zu einer Reise ins Unterbewusstsein der Deutschen.
Die Entführung der Politikerin Wagenknecht ist ein Anstoß für die Bewusstseinserweiterung von Emma Andreas Erdling. Wagenknecht sorgt zwar an einigen Stellen für humoristische Momente, ist aber trotz ihrer faktischen Existenz nicht als die reale Person zu lesen, die wir kennen (oder nach der Relativität im Quantenuniversum: in diesem Moment zu kennen glauben), sondern als eine literarische Projektionsebene – eine Metapher, eine ironische Anspielung auf den sprichwörtlichen „roten Faden“ des Romans. Das gilt letztlich auch für Persönlichkeiten wie Karl Marx, Thomas Mann oder Hanns Heinz Ewers, der ein Freund und Begleiter Erdlings wird.
Emma Braslavskys Roman „Erdling“ ist eine skurrile Reise, die buchstäblich Türen zu anderen Planeten öffnet und den Leser:innen einmal mehr die Möglichkeiten von Literatur unter Beweis stellt. Kulturgeschichtliche Aspekte und intertextuelle Verweise machen den Roman komplex und anspruchsvoll. Wer in diese Welt eintauchen möchte, findet in der Danksagung zahlreiche Lektüreempfehlungen der Autorin. Gut beraten ist, wer sich gemeinsam mit Emma Andreas Erdling davon freimacht, alles innerhalb eines newtonschen Weltbetrachtens deuten zu wollen, und sich dazu entschließt, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.
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