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Martin Straub
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Von Martin Straub
Man muss es leider heute noch immer konstatieren, dass Fred Wanders 1971 erschienener Roman »Der siebente Brunnen« trotz mehrfacher Auflage keine seiner Bedeutung entsprechende Öffentlichkeit in Ost und West unseres Landes gefunden hat. Das ist bedauerlich, gehört dieses Buch doch künstlerisch-thematisch mit seiner eigenartigen Verschränkung von Lebensbericht und Fiktionalität in eine Reihe mit den Werken über die Shoa von Primo Levi, Jorge Semprún, Imre Kertész und Ruth Klüger. Letztere hat ein bemerkenswertes Nachwort zur jüngsten Ausgabe geschrieben.
Fred Wander, 1917 in Wien geboren, durchlitt alle Konzentrationslager, die er in seinem Roman aufzählt: Perpignan und Drancy in Frankreich, dann Auschwitz, Hirschberg im Riesengebirge und am Ende Buchenwald mit seinem Außenlager Crawinkel in Thüringen. Ruth Klüger schreibt: Fred Wanders Leben liest sich als ein paradigmatischer Fall von Mitteleuropas ›Juden auf Wanderschaft‹, um mit Joseph Roth zu sprechen. 1917 in Wien geboren ging er schon als Vierzehnjähriger auf Wanderschaft und vagabundierte, oft in Not, als Gelegenheitsarbeiter durch Europa. Seine jüdische Herkunft und die damit verbundenen Erfahrungen der Diskriminierung prägen sein Erzählen im »Siebenten Brunnen«.
In der DDR hat die geringe öffentliche Beachtung wohl einen Grund darin, dass in diesem Erzählen über jüdisches Leid und Widerstehen eine völlig andere Stimme über Buchenwald zu hören ist als in den öffentlichen Verlautbarungen. Wander formuliert schon weit vor 1989 Positionen zur deutschen Vergangenheit, die den offiziellen Antifaschismus irritierten, weil sie religiöse, von jüdischen Traditionen inspirierte Züge trugen. An Primo Levi schreibt er: Es gibt keine Aufarbeitung der Vergangenheit durch einen politischen Akt oder durch Verfügung oder durch Macht, sondern durch das ›tägliche‹ Ringen mit sich selbst – um mit Goethe zu reden, das ›unersättliche Verlangen‹ nach Reinigung!
Die Handlung von Fred Wanders in Dichtung aufgehobenen Erinnerungen beginnt mit der Evakuierung eines KZ im Riesengebirge, dem Todesmarsch durch das winterliche Gebirge und endet mit der Befreiung in einer Kinderbaracke des Lagers Buchenwald.
Die Welt außerhalb der Konzentrationslager ist, so nahe sie manchmal räumlich liegen mag […] eine andere Welt. […] Und die Menschen außerhalb der Lager haben keinen Blick für die grauen Elendsfiguren. In dieser Hinsicht wohl am eindringlichsten ist die Szene der Ankunft in Buchenwald im 6. Kapitel »Aber die Frauen und Kinder sahen nicht den Zug, sahen nicht die merkwürdigen Figuren, die aus den Waggontüren kollerten (war es für sie ein gewohntes Bild?), am Boden krochen, sich lautlos wanden, sich zu erheben versuchten. […] Es gab Frauen und Kinder auf dem Ettersberg. Läden für Fleisch, Brot, Äpfel. Es gab Häuser mit Betten, Teppichen und gedeckten Tischen.« Das korrespondiert mit jenen Stellen des Romans, in denen Wander eine schöne Natur malt, ja, geradezu eine Idylle, die unberührt von dem Grauen bleibt. »Ein blauer Glockenblumenhimmel darüber und weiße Wölkchen über den Wipfeln der Bäume, wie Brüsseler Spitzen so zart«, heißt es in dieser Lager-Ankunft-Szene.
Wander gibt keine Geschichte mit fortlaufender Handlung. Kraft ziehen seine Juden nicht aus einem politischen Programm, aus einer politischen Teleologie, die sie diese Leidensetappe durchstehen lassen. Fred Wanders gemarterte Juden besinnen sich auf elementar Menschliches, das dieses Volk wegen und trotz der Verfolgung und Diaspora bewahrt hat. Es ist das Vermögen zu erzählen, sich zu erinnern, sich mitzuteilen und zuzuhören, um dadurch Kraft zu spenden und zu empfangen. Und das ist das Großartige an diesem Buch, wie Fred Wander aus dieser »Kraft der Erinnerung« und dieser »Sehnsucht nach Zukunft, die aus der Vergangenheit kommt« (Yehuda Amichai) ein vielfältiges Bild jüdischer Tradition und jüdischen Volkslebens entstehen lässt und damit den auf eine Nummer reduzierten Opfern ihre Identität wiedergibt. Da ist Tschukran, »der grobe Terk, der Marktjude, der Spaßmacher und Muskelprotz, der Spötter […] und Barbar. Da ist der Schneider de Groot, der Genießer, der aus feinstem Tuch nur für die Oberschicht schneidert. Oder Jacques, der Arbeiter aus Paris, »ein verwegener Typ«. Und da ist der Intellektuelle Lubitsch. Er »war Päderast, aber wen kümmerte das. […] Seine Welt war die Poesie und die höhere Mathematik«. Erzählt wird von Manasse Rubinstein, »er kam zwölfjährig ins Lager, schön wie ein Cherub. Das war seine Rettung, sein Fluch: Mit vierzehn Capo! Schaftstiefel und Ochsenziemer.«
Wanders Erzähler erzählt über all diese Schicksale aus einer teilnehmenden Distanz. In diesem Zusammenhang ist ein Gedanke Erin McGlothlins bemerkenswert, er sagt: In gewisser Weise spiegelt Wanders Erzählstrategie sein Verhalten in den Konzentrationslagern wider, was ihm auch zu überleben half, und er zitiert Wander aus seiner Selbstbefragung 1994 »Nicht jeder braucht eine Heimat«: ›Im KZ hieß die erste Regel, die ich lernte: Nicht auffallen, bleib immer im Hintergrund! Verschwinde beizeiten, löse dich auf! Was dem Wesen des Schlemihls – einer Volksfigur der jüdischen Literatur sehr nahe kommt.‹
Und so ist auch das erste der zwölf Kapitel mit »Wie man eine Geschichte erzählt« überschrieben. Was der Ich-Erzähler gleich zu Beginn am Beispiel Mendel Teichmanns erörtert, dieses glänzenden Rhetors, ist die Substanz, aus der sich dieses Sich-Mitteilens speist: es ist »seine äußerste Konzentration auf das Betrachten menschlichen Verhaltens«, aus den »magische(n) Kräfte(n)« des Wortes, aus der Faszination vom Wort. Dieses erzählerische Spektrum hat noch ein Besonders: Hans Höller bezeichnet es in seinem Vortrag »Erzählen als Erinnern und Widerstand. Fred Wanders ›Der siebente Brunnen‹ im Kontext der Literatur über die Shoa« als »Manifestationen des Lebenstriebs«, die »im Text eine unheimliche Skala« umfassen: es reicht von kreatürlichen Gebärden bis zum geformten Wort, von den reflexhaften Bewegungen eines Fingers, der Schultern, dem Wackeln des Kopfes, über Bewegungen des Mundes, Stöhnen, Schreien, Gemurmel, gehauchte Schwüre, Flüche, bis zu poetischen Erzählungen aus dem vergangenen Alltag, Pantomime, Zitate aus dem Talmud, mystische Spitzfindigkeiten, Lied, Rezitation, Gebet und philosophisches Gespräch, ein in Bruchstücke zerbrochener Gesang des Lebens, zusammengehalten von der Erzählrede.
Fred Wanders Erzähler gründet sich auf eine Stimme«, die »von Hass und Überschwang frei ist, der sich nachdenklich, fast gelassen, aber tief beteiligt,besorgt, erstaunt und immer als unser Zeitgenosse erinnert, so Christa Wolf. Da gibt es kein heroisches Pathos. Fred Wanders Thema ist die »Kraft der Schwachen«, um das aus dem 2. Korinther entlehnte Wort der Anna Seghers zu zitieren. Gegen das Leiden, gegen Methoden der auf Menschenverachtung und Menschenvernichtung gedrillten Bewacher setzt er Lebensgeschichten. Aus den selbsterzählten Erinnerungen werden Gleichnisse für die Überlebenskraft. Darin vor allem ist das Gegenbild zu einem plakativen Heroismus zu sehen, bedenkt Wulf Kirsten.
Und so schreibt Fred Wander einen ganz anderen Roman als Bruno Apitz. Man kann ihn durchaus als einen Gegenentwurf zu »Nackt unter Wölfen« lesen. Deutlich wird es etwa in der Auseinandersetzung von Wanders Erzähler mit der Rede des politischen Häftlings Pépé. »Seine Wortkaskaden waren nicht Poesie wie die Rede von Mendel Teichmann, sie waren Revolution. […] Das Konzentrationslager betrachtete Pépé als Prüfung, […] Wer fiel, war nicht tauglich für die Revolution. […] Hör mich an, beharrte ich, eure Revolution, wenn sie gemacht ist […] Was wird sein? Wer wird leben in der Welt, wo eure Revolution gesiegt hat. nur Maquisards? […] Eee, sagte Pépé gelangweilt, gute Menschen können wir jetzt nicht brauchen, wir brauchen Recken, Kämpfer, Kopfabschläger, Messerschleifer, Ausbrecher! Ihr werdet alle Sorten von Leuten brauchen, sagte ich, wenn die Revolution gemacht ist! […] aus mir redete Mendel Teichmann.«
Wer so erzählt, schreibt auch anders über die Befreiung des Lagers. Der Ton ist verhalten. Es gibt keine heroischen Bilder. Der Blick des Erzählers weilt in der Kinderbaracke des Lagers bei »Joschko und seine(n) Brüder(n)« , so ist das letzte Kapitel überschrieben. »Das war nicht der Jubel, der mich erfüllte … Die Gesichter Joschkos und seiner Brüder! Diese unwissenden, rasend ahnungslosen, wahnsinnig nach Essen und Leben gierenden Gesichter, […] Es war alles eingeschlossen und aufbewahrt in dieser Unwissenheit: das Wissen und die Erfahrung der Welt. […] Joschko fuhr dem Kleinen vorsichtig mit der Hand übers Gesicht, dieses winzige, schwarze, traurige Gesicht. Mit dem Löffel, mit meinem Löffel träufelte er dem Träumenden ein paar Tropfen auf den Mund.«. Mit diesen Sätzen endet der Roman.
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