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Siegfried Seifert
Erstdruck in Palmbaum 2-2019.
Gelesen von Siegfried Seifert
Mit bewundernswerter Akribie und Ausgewogenheit
Diese Neuedition ist ein Ereignis: Für das europäische Amerikabild eingangs des 19, Jahrhunderts, aber auch für die Ideenwelt des klassischen Weimar, gespiegelt in der „Neuen Welt“, sowie für die Goethe-Forschung. Das amerikanische Tagebuch des Herzogs Bernhard (1792–1862), des zweiten Sohnes des Großherzogs Carl August, war zuerst 1828 in der Hoffmannschen Hofbuchhandlung zu Weimar erschienen; eine englische und eine niederländische Übersetzung folgten sofort. Der damalige Herausgeber, der Jenaer Historiker Heinrich Luden, hatte aber – in weitgehender Übereinstimmung mit dem Autor – den Text um fast die Hälfte gekürzt und auch Veränderungen im Wortlaut vorgenommen. Herzog Bernhard war wohl letztlich doch von Ludens Redaktion enttäuscht, denn er schrieb später, dass dieser den Text „castrirt“ habe (S. 9). Mit der von dem amerikanischen Germanisten Walter Hinderer und dem Weimarer Literaturwissenschaftler Alexander Rosenbaum herausgegebenen Edition wäre Bernhard aber ohne Zweifel höchst zufrieden. Die neue Ausgabe bietet den ungekürzten Text in originaler sprachlicher und orthographischer Fassung. Die Transkription der über 1000 Seiten umfassenden, im Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrten Handschrift durch A. Rosenbaum ist eine beispiellose, bewundernswerte Leistung!
Die beigefügten Aufsätze von Rosenbaum und Hinderer (über die bisherige Publikationsgeschichte des Tagebuchs bzw. über die Amerika-Reise des Herzogs, S. 803–863) interpretieren Herzog Bernhards Tagebuch in seiner inhaltlichen wie literarischen Bedeutung. Sie heben nicht nur die generelle „bewundernswerte Akribie und Ausgewogenheit“ (S. 9) des Werkes hervor, die „Rastlosigkeit“, mit der Bernhard das „Neue und das Fremde sucht, um es sich anzueignen“ (S. 838), sie weisen auch auf zahlreiche einzelne Themen und Aspekts des weitgespannten inhaltlichen Angebots hin. (Leider verorten diese Aufsätze die Zitate aus Bernhards Aufzeichnungen in der Weimarer Handschrift oder der Ausgabe von 1828, nicht nach der neuen Gesamtausgabe; offensichtlich waren Satz und Umbruch noch nicht fertig.)
Die umfassende Bildung und das breite, unvoreingenommene soziale Interesse des auf seinem Lebensweg vor allem als Militär in niederländischen Diensten erfolgreichen Herzogs sind beeindruckend. Im Tagebuch finden sich Bernhards überzeugende Urteile über politische, kulturelle und technische Fragen, anschauliche Schilderungen seiner Begegnungen mit z. T. berühmten Persönlichkeiten wie John Quincy Adams und Thomas Jefferson, fesselnde Naturbeschreibungen (Niagara-Fall usw.) und vieles andere. Zeichnungen des Autors bereichern den Text. Sein Verständnis für die amerikanische Geschichte seit dem Unabhängigkeitskrieg und der Gründung der USA schließt auch die kritische Sicht, vor allem auf den Sklavenhandel, nicht aus: Bernhard beschreibt mehrere Szenen, in denen Sklaven und vor allem Sklavinnen gedemütigt und brutal misshandelt werden. Sachkundig und in vielem verständnisvoll und anerkennend aber seine Bemerkungen zu den Siedlungen des utopischen Sozialisten Robert Owen und des schwäbischen Pietisten Johann Georg Rapp sowie zu den – allerdings relativ geringen – Begegnungen mit Indianern. Man kann dieses gewaltige Werk wohl nur allmählich und thematisch-partiell lesen, aufnehmen und studieren. Dabei helfen das Personenregister und das Geographische Register (S. 865–910). Sehr nützlich sind auch weitere Ergänzungen und Übersichten: Verzeichnis der Beilagen im Tagebuch, Dokumente (vor allem Briefe im Zusammenhang mit dem Amerika-Aufenthalt), Bibliographie sowie eine Kurzbiographie zu Bernhard. Dass die Neuedition keinen erläuternden Stellenkommentar hat, kann man akzeptieren; sie wäre wohl sonst erst in ferner Zukunft fertig geworden. So bleibt die detaillierte Auswertung und Interpretation die Aufgabe der künftigen Forschung, die mit dieser Edition eine absolut sichere Quellengrundlage erhält.
Das außerordentliche Interesse Goethes am Tagebuch Bernhards konnte in den Beiträgen der Herausgeber nur im Ansatz, aber mit deutlichem Verweis auf entsprechende Spezialuntersuchungen, soweit sie schon vorhanden sind, analysiert werden. Goethe, der schon während der Reise Bernhards in die Lektüre der nach Weimar übersandten Teilfaszikel des Tagebuchs einbezogen war, begrüßte den Heimgekehrten mit einem Gedicht in der Weimarer Freimaurerloge am 15. 9. 1826 („Dem aus Amerika glücklich-bereichert Wiederkehrenden …“). Ohne Zweifel hat Goethes besonderes Engagement nicht nur die schnelle Publikation des Amerika-Tagebuchs entscheidend gefördert, sondern auch die Wirkung von Bernhards weitgespanntem Panorama der „Neuen Welt“ auf die Neubearbeitung von „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ ermöglicht. Bekannt ist auch Goethes 1827 entstandenes Zahmes Xenion „Amerika, du hast es besser …“. Insofern gehört das Amerika-Tagebuch auch zu den geistigen Wurzeln des klassischen Weimar in Goethes Spätzeit.
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