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Joseph Roth
Bilderbogen, Arbeiter-Zeitung 30. Januar 1924 / Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit, hg. Rainer-Joachim Siegel, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, S. 162-164.
Man muss ganz Deutschland kennen, ein Stück ist gefährlich. Es ist die Geschichte vom Baume, dessen Blätter und Früchte wechselseitiges Gegengift sind.
… Bediente, die keinen Herrn haben, sind darum doch keine freien Menschen … die Dienstbarkeit ist in ihrer Seele.
Heinrich Heine, »Einfälle«
Nun danket alle Seeckt! Wenn es ohne den Herrn doch nicht geht. Das Gegengift aber hat seine Wirksamkeit verloren, die Blätter sind verdorrt, die Früchte bitter, der Baum bis zur Wurzel angefault … nein: Will man die verschiedenen Stücke zu einem richtigen Ganzen fügen, so soll man sich keineswegs allzu gründlich in die Betrachtung der Einzelheiten versenken und lieber ihrer möglichst viele zusammentragen, damit man erkenne, wie gleich sie sich sind, wie hoffnungslos einförmig das Antlitz des Deutschland von heute ist. Der oberflächliche erste Eindruck ist schon der richtige. Leider.
In Weimar kam ich des Abends an. Das Städtchen, in dicke, warme Schneepolster gebettet, schlief fest und traumlos. Schlittengeläut, einige Liebespärchen, die weder für das Goethe-Haus noch für die Fürstengruft Interesse haben und eiligst eng verschlungen in die Finsternis der Seitengässchen biegen. ein Idyll aus guter, alter Zeit. Man freut sich, die schlimmen Ahnungen nicht bestätigt zu sehen und ein so friedliches Bild vorzufinden, tritt des Genusses eines Schnitzels begierig in das Hotel »Russischer Hof«, macht ahnungslos die Tür in den Speisesaal auf und – prallt entsetzt zurück. Denn ganz unvermutet ist man da in das Offizierskasino des kaiserlichen Armeekommandos geraten: Lauter Orden und Sporengeklirr und Habtachtstellung … es wird einem ganz schwarz vor den Augen.
Aber dann nimmt man sich doch ein Herz und wagt es, sich als lumpiger Zivilist an einen entfernten Tisch des Saales zu setzen, und darf Zeuge sein, wie hier die alte Herrlichkeit in ihrer ganzen Blüte aufersteht. Nein, das muss man gesehen haben. Ich konnte und konnte es nicht fassen, dass wir tatsächlich 1924 schreiben und dass es doch fünf Jahre her sind … und überhaupt … Ich fuhr mir ein–, zweimal über die Stirn, um ganz sicher zu sein, dass mich nicht ein Traum äffte. Doch da zelebrierten die Herren drüben mit unnachahmlicher Würde »kameradschaftliche Unterhaltung«; Monokel blitzten, man stand stramm und prostete sich zu und tauschte politische Meinungen aus … : Ich brauchte gar nicht näher die einzelnen Gesichter zu betrachten und hatte doch die unumstößliche Gewissheit gewonnen, dass alles wahr ist, was in Thüringen geklagt wird, und dass es noch viel, viel ärger sein muss. Dann flüchtete ich. Aber draußen lauerte wieder ein Reichswehrsoldat, Gewehr am Arm, und erst einige Minuten später erkannte ich, dass es der verschneite Neptun des Brunnens war, der mich mit seinem Dreizack so genarrt hatte. Mein Gott … die Nerven spüren noch die Wirkungen des Stahlbades, und man muss sich erst langsam daran gewöhnen, dass unsere kleine Zeit wieder groß wird.
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