Imre Kertész – »Roman eines Schicksallosen«

Personen

Imre Kertész

Dietmar Ebert

Orte

Gedenkstätte Buchenwald

Bahnhof Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Ebert

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Diet­mar Ebert

 

Mehr als 15 Jahre hat Imre Ker­tész gebraucht, um sei­nen Roman­erst­ling zu schrei­ben. Er erschien 1975 unter dem Titel Sorst­alan­ság (Schick­sal­lo­sig­keit) bei Szé­pi­ro­dalmi (Buda­pest). Der Roman hatte zunächst kei­nen gro­ßen Erfolg, zu unge­wohnt war seine Erzähl­weise und zu kühn sein Stil. Es bedurfte mehr als 20 Jahre, einer fried­li­chen Revo­lu­tion und der Über­set­zung von Chris­tina Viragh ins Deut­sche, ehe der Roman eines Schick­sal­lo­sen (1996) ein Welt­erfolg wurde. Ker­tész erzählt die Geschichte des jun­gen György Köves zwi­schen sei­nem 14. und 15. Lebens­jahr: seine Ver­haf­tung in Buda­pest, die Depor­ta­tion nach Ausch­witz, Buchen­wald, Rehmsdorf/Tröglitz, das Erleb­nis der Befrei­ung Buchen­walds und seine Rück­kehr nach Budapest.

Der Autor erzählt den Roman aus der Per­spek­tive des 14-jäh­ri­gen György, lässt ihn Schritt für Schritt gehen und immer nur so viel wis­sen und sagen, wie er gerade wis­sen kann. So muss György den All­tag der Lager durch­mes­sen, wird er sei­nes indi­vi­du­el­len Schick­sals beraubt und selbst zum Schick­sal. Für ihn gibt es keine Ent­wick­lung, immer nur die nächste Sekunde, den nächs­ten Herzschlag.

Um das Unsag­bare zur Spra­che brin­gen zu kön­nen, die Chif­fre »Ausch­witz« als Mythos und Rea­li­tät in lite­ra­ri­schen Bil­dern zeich­nen zu kön­nen, muss Imre Ker­tész den Bruch mit den tra­di­tio­nel­len Roma­nen des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts voll­zie­hen und zu einer Spra­che fin­den, die das ver­mag. Er hat sie in sei­nem Essay Die exi­lierte Spra­che die »Nach-Ausch­witz-Spra­che« oder die »ato­nale Spra­che« genannt. In der Tat gibt es eine musi­ka­lisch-lite­ra­ri­sche Ver­wandt­schaft zwi­schen der Zwölf­ton­reihe, wie sie Arnold Schön­berg, Alban Berg und Anton Webern in ihren Kom­po­si­tio­nen nutz­ten und dem Erzäh­len im Roman eines Schick­sal­lo­sen . So wie in der Reihe die Töne auf ein­an­der fol­gen müs­sen, so muss auch das Erzäh­len Schritt für Schritt den Erleb­nis­sen und ihrer Kom­men­tie­rung durch den jun­gen Köves folgen.

Wir als Leser gehen jeden Schritt des Erzäh­lers mit, las­sen uns auf seine Wahr­neh­mung und sein Den­ken ein, und wenn er sich zum Kom­pli­zen sei­ner Pei­ni­ger macht, erschre­cken wir zwar, fol­gen aber sei­ner Erzäh­lung ohne Wider­stand. Wir voll­zie­hen den gesam­ten Weg von Gyuri Köves nach: sei­nem schwä­cher Wer­den, sei­ner Krank­heit, sei­nem fast Sich-Auf­ge­ben bis hin zu jenem Punkt, als er krank und abge­ma­gert wie­der nach Buchen­wald gelangt. Zwi­schen Leben und Tod schwe­bend nimmt er den Geruch von Suppe wahr und denkt den unge­heu­er­li­chen Satz: »ein biß­chen möchte ich noch leben in die­sem schö­nen Konzentrationslager.«

Das ist ein Satz zwi­schen Dies­seits und Jen­seits, ein Satz vol­ler ästhe­ti­scher Wahr­haf­tig­keit. Und ein Satz vol­ler his­to­ri­scher Wahr­haf­tig­keit, waren doch Bedin­gun­gen und Ver­pfle­gung in den KZ-Außen­la­gern Rehms­dorf und Trög­litz noch weit­aus schlim­mer als im Stamm­la­ger Buchenwald.

Jedoch bevor die­ser pro­vo­ka­tive Satz fällt, lesen wir, dass alles Abwä­gen, alle Ver­nunft, alle Ein­sicht und Ver­stan­des­nüch­tern­heit nichts helfe gegen diese Stimme des Am-Leben-Blei­ben-Wol­lens. In so wohl­ge­form­ten Sät­zen spricht kei­ner, des­sen Lebens­licht fast erlo­schen ist. In der Tat hat Imre Ker­tész einen zwei­ten, einen »heim­li­chen Erzäh­ler« ein­ge­schmug­gelt, der anders for­mu­lie­ren kann als der fast 15-jäh­rige Junge, einen, der fest ver­an­kert in der euro­päi­schen Kul­tur ist, der nicht naiv, son­dern fast weise das Gesche­hen kom­men­tiert, Gyuri bei­steht, aber nicht hin­ein­re­det. Die Spu­ren zwi­schen bei­den Erzäh­lern hat Imre Ker­tész fein ver­wischt, sie sind beim Lesen kaum mehr spür­bar. Nach jedem Wie­der-Lesen des Romans eines Schick­sal­lo­sen kön­nen wir die »lite­ra­ri­schen Abgründe« (Chris­tina Viragh), die dem Roman ein­ge­schrie­ben sind, bes­ser ermes­sen. Sie sind die Vor­aus­set­zung sei­ner Authen­ti­zi­tät, Wahr­haf­tig­keit und Ehr­lich­keit. Das trifft auch auf die übri­gen Werke des am 29. März 2016 ver­stor­be­nen unga­ri­schen Nobel­preis­trä­gers zu. Sie zu lesen und sich ihrer Wahr­heit zu stel­len, ist nötig, soll über den Holo­caust nicht im Impe­ra­tiv gespro­chen werden.

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