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Frank Quilitzsch
Erstdruck in Thüringer Allgemeine / Thüringische Landeszeitung 4.05.2020. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Lesebuch aus Thüringens Mitte. Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann geben brisante Textsammlung heraus
Von Frank Quilitzsch
Die Demokratie ist Thüringen nicht in die Wiege gelegt worden. Sie musste erstritten und wiedererrungen und muss auch heute mit aller Macht verteidigt werden. Das ist die politische Quintessenz der Anthologie „Der Weg entsteht im Gehen – Literarische Texte aus 100 Jahren Thüringen“, die der Thüringer Literaturrat zum Landesjubiläum herausgegeben hat. Ihre poetische Substanz ist gleichwohl reicher und umfassender, letztlich so vielfältig und widersprüchlich wie das Leben der Menschen in diesem Land.
Bewusst knüpfen die Herausgeber, der Literaturwissenschaftler Jens Kirsten und der Jurist Christoph Schmitz-Scholemann, mit ihrer breitgefächerten Textauswahl an die Tradition des Volkslesebuches an. „Der Weg entsteht im Gehen“ ist nach der 2018 erschienenen „Thüringer Anthologie – Eine poetische Reise“ bereits ihr zweites regionales Standardwerk.
Das „Lesebuch aus Deutschlands Mitte“, wie es im Vorwort genannt wird, ist eine lebendige Chronik eines Jahrhunderts voller Hoffnungen, Kämpfe und Enttäuschen, die sich auf engstem Territorium bündeln. Den Erlebnisberichten vorangestellt ist der „Gemeinschaftsvertrag über den Zusammenschluß der thüringischen Staaten vom 4. Januar 1920“, womit ein Jahr nach der Weimarer Verfassung die Landesgründung besiegelt wurde.
Auf den folgenden fast 400 Seiten erwartet den Leser ein Chorus verschiedentlich miteinander korrespondierender publizistischer und literarischer Stimmen – von Walter Benjamin, Joseph Roth und Klaus Mann bis zu Tankred Dorst, Rainer Kunze, Sigrid Damm, Ingo Schulze und Kathrin Schmidt. Da folgen etwa auf Harry Graf Kesslers Tagebucheintrag vom 17.8.1924, der den heraufziehenden braunen Spuk auf dem Weimarer Theaterplatz beschreibt, Thomas Manns „Goethe-reise“ und Kurt Tucholskys „Schulaufsatz“ über Hitler und Goethe, ehe der Brief eines SS-Manns an Reichsführer Heinrich Himmler die Anbindung des Konzentrationslagers Buchenwald an die Kulturstadt fordert und der ehemalige Häftling Bruno Apitz sich an die Hölle des „Kleinen Lagers“ erinnert. Die Auf- und Umbrüche der Geschichte strukturieren alle Teile des Bandes: Kriegsende und Gründung der DDR. Hoffnung, Desillusionierung und Resignation. Friedliche Revolution und Wiedervereinigung Deutschlands. Die Freude und Ernüchterung danach.
Wenn zum Beispiel der Südthüringer Landschaftsdichter Walter Werner sein Geburtsdorf beschreibt, fließen verloren geglaubte Alltagserfahrungen mit ein. Jürgen Fuchs formuliert Fragen eines inhaftierten Oppositionellen. Der Reporter Landolf Scherzer gibt die Hoffnungen und Zweifel eines SED-Funktionärs kurz vor dem Zusammenbruch der DDR und der aus Wolfenbüttel zugereiste Zeitungsmacher Paul-Josef Raue seine Eindrücke von einer Wanderung am ehemaligen Todesstreifen zu Protokoll.
Und immer wieder literarische Bekenntnisse. Dieses kleine, gebeutelte Bundesland muss schon allerlei zu bieten haben, wenn es von Dichtern wie Lutz Seiler, Hanns Cibulka oder Wulf Kirsten „besungen“ wird. Somit zeigt die Anthologie Thüringen auch „als Literaturland par excellence“: Von der Wartburg bei Eisenach bis zum Frauenplan in Weimar, von Reinhard Lettaus zerbombtem Erfurt bis zu Wolfgang Hilbigs Kneipen in Meuselwitz sei „ein ganzes Land mit Poesie aufgeladen“, betont Christoph Schmitz-Scholemann. In allen Texten schwingen ja die Biografien der Autoren mit, die etwas aus ihrem Leben erzählen – „mal heiter, mal ironisch, mal traurig, mal resigniert“, ergänzt Jens Kirsten.
So fügt sich aus vielen kleinen Teilen ein Mosaik der letzten 100 Jahre Thüringens. Man kann den Band Deutsch- und Geschichtslehrern und ihren Schülern nur wärmstens empfehlen, vermittelt er doch Historie auf höchst individuelle und unterhaltsame Weise und fördert das Bewusstsein, dass Humanismus und Barbarei menschengemacht sind.
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