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Charlotte Krause
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Charlotte Krause
»Die Leiden des jungen Werther«, ein Briefroman von Johann Wolfgang von Goethe, erschien als Erstfassung im Jahre 1774 und wurde daraufhin ein Welterfolg. Das viel gelesene Buch ist noch heute an vielen deutschen Schulen Pflichtlektüre.
Oft wird Werther in den Interpretationen als ein tragischer Romantiker dargestellt, der angeblich an der Liebe zu einer bereits verlobten Frau namens Lotte zerbricht. Dies wird an der emotionalen Sprache, die allein als Liebesbekundung für Lotte gedeutet wird, festgemacht. Doch Werther ist eine Romanfigur, die nicht mit einem echten Menschen zu verwechseln ist (auch, wenn uns das als Leserschaft gern suggeriert wird). Werther ist eine Konstruktion, ein Ausprobieren von Möglichkeiten, ein Durchspielen von Gedanken, immer auf der Suche nach der Frage, wie der Mensch sein soll und wie er zu leben habe. Wenn es ganz schlimm kommt, wird die Figur des Werthers sogar mit Goethe selbst verglichen, der ja – angeblich – auch unglücklich in die bereits inoffiziell verlobte Charlotte von Buff verliebt war. Zu dumm, denn leider können wir Herrn Goethe diesbezüglich nicht mehr fragen, also lassen wir lieber gleich die Finger von wilden Spekulationen und Interpretationen!
Schön (und anspruchslos) wäre es also, wenn uns die Literatur in einfacher und eindeutiger Weise gegenüber treten würde. Doch Kunst ist mehrdeutig, spielt mit uns als Leser, verwirrt uns, reißt Leerstellen auf, die wir mit eigenen Verknüpfungen neu zuordnen müssen.
Ganz gemäß Bertolt Brechts Motto »Glotzt nicht so romantisch!«. Literatur soll ihre Leserschaft nicht (nur) verzücken, sondern vor allem zum Nachdenken bringen. Goethes Werther ist nicht die Geschichte einer tragisch-traurig schönen Liebe, die einem die Tränen in die Augen treiben könnte, sondern ein sehr moderner Roman, der sich nicht auf eine triviale Deutungsmöglichkeit beschränken lässt.
Dies beginnt bereits mit Aufbau und Form des Romans. Er nährt sich zwar lose der Form des Briefromans an, hält diese jedoch nicht konsequent ein. Das Vorwort von – ja, wer spricht da überhaupt zu uns? – einem fiktiven Herausgeber, bildet die ersten Sätze des Romans und gibt grobe Auskünfte über die folgenden Geschehnisse. Der Leser erfährt zumindest: Die Geschichte handelt von einem armen Werther, dessen Schicksal von ihm in selbst verfassten Briefen festgehalten wurde. Es konnten jedoch nicht alle Briefe aufgefunden werden, die Reihenfolge und Anordnung der Briefe ist ebenfalls fraglich. Bereits beim Aufschlagen der Lektüre werden wir also bereits in die Irre geführt und gleichzeitig zum Nachdenken herausgefordert.
Die anderen erwähnten Figuren, zu denen natürlich auch Lotte zählt, dienen wiederum der Illustration Werthers und »leben« entsprechend nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Perspektive Werthers, die subjektiv und lückenhaft ist. Der Vater von Lotte ist ein reiner Berufsmensch, von dem nicht mehr als wenige Eckdaten (Amtsmann, Witwer, neun Kinder) bekannt sind. Die Eltern von Werther werden wiederum kaum erwähnt und sind nicht wirklich als »Personen« fass- und vorstellbar. Wir erleben die Umwelt Werthers lediglich aus seiner Sicht, einem familiär entwurzelten Ich, das auf der Suche nach Identität umherstreift, unterwegs ist, die eigne Lebensreise als Selbstsuche zu begreifen versucht. Seine Liebe (oder sein gedankliches Ausprobieren von Liebe) zu Mamsell Lottchen ist davon nicht ausgenommen. Das meiste, was wir lediglich von Lotte wissen, ist, wie ihr Kleid aussieht (weiß wie die Unschuld mit blassroten Schleifen an Arm und Brust). Die Frage bleibt offen und ungelöst: Wer möchte Werther sein? Antworten sucht er in Wahlheim, ein utopischer und fiktiver (Sehnsuchts-)Ort, der nicht als lokaler Raum, sondern als Stimmungsraum zu verstehen ist, und je nachdem sowohl als Idylle als auch als Hölle für unseren Werther wahrgenommen wird.
Werther scheitert am Ende. Jedoch nicht an der Liebe, wie man es (um simple Antworten auf komplexe Fragen zu finden) zuerst vermuten möchte. Sondern er scheitert als Mensch, der in seinem kleinen Kosmos keine Antworten auf die Grundfragen des menschlichen Seins zu finden vermag. Werthers Freitod am Ende des Romans ist Sinnbild und Symbol für das Scheitern eines modernen Menschen.
Warum sollte dieser Roman von Johann Wolfgang von Goethe – auch ohne Happyend – wieder gelesen werden? Weil er, auch nach 242 Jahren, nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Weil sich der Mensch immer noch fragen muss, wo er bei all den Möglichkeiten des Lebens hinreisen möchte (sowohl innerlich als auch äußerlich). Wie kann er die am wenigsten entfremdete Version vom Menschsein auswählen, wenn er nach wie vor Lebensentwürfe und Identitäten wie Kostüme an- und wieder abstreift? Wer will ich sein? Und was bedeutet dieses Menschsein überhaupt? Gibt es dafür messbare Werte, Richtlinien, Formeln und Fakten? Wie kann Mensch, Natur und Kultur zusammenkommen? Oder kann man, wenn man vom Menschsein berichtet, geradezu nur von einer Unnatur sprechen, in der wir nach wie vor dabei sind, unsere Normen immer wieder erneut festzulegen?
Goethes Werther hält vielleicht keine eins zu eins umsetzbaren Lösungen bereit. Aber durch die Literatur werden wir zumindest an die Tatsache erinnert, dass wir gewiss noch nicht am Ende unseres Fragens angelangt sind.
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