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Jens Kirsten
Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« / Thüringer Literaturrat e.V.
Gelesen von Jens Kirsten
Jürgen K. Hultenreich hat mit »Hölderlin – Das halbe Leben« eine poetische Biographie vorgelegt, die ein Glücksfall für die Hölderlin-Forschung und für die deutsche Literatur ist. Der Autor reißt mit seinem Buch den geistigen Horizont einer ganzen Epoche auf, die mit dem Denken von Hegel, Schelling, Hölderlin, Fichte und anderen eingeleitet wurde. Wie der Autor die Fäden der entstehenden Freundschaften zwischen Hölderlin, Hegel und Schelling aufnimmt, im Verlauf seines Buches verwebt und biographische Zusammenhänge mit philosophischen Fragen verknüpft, bereitet höchstes Lesevergnügen. Mit Hegel und Schelling, die wie Hölderlin 1790 Theologie-Studenten im Tübinger Stift waren und bereits Stunden vor dem morgendlichen Wecken miteinander über abendländisches Denken diskutierten, verband Hölderlin eine nahezu lebenslange Freundschaft.
Das Tübinger Stift galt Ende des 18. Jahrhunderts als Fundus für Hauslehrer, die man seinerzeit nicht ohne entsprechende Referenzen einstellte. Mit subtiler Verve schildert Hultenreich Hölderlins Aufenthalte als Hauslehrer in verschiedenen Häusern, die er, der finanziellen Not gehorchend, antrat und die meist ein abruptes Ende fanden wie im Haus der Charlotte von Kalb in Waltershausen, deren Sohn er weniger zu unterrichten hatte, als dass er ihm das exzessive Onanieren austreiben sollte. Dass Hölderlin sich in »in Schillers Hörweite« ins Gothaische Waltershausen träumte, liegt für Hultenreich nahe, weniger jedoch, dass sich zahlreiche seiner Biographen nicht um einen genauen Blick bemühten.
Charlotte von Kalbs Wohnort, der ebenfalls Waltershausen hieß, lag im fränkischen Grabfeld an der Milz und nicht in Thüringen. Hultenreich geht es dabei nicht um Rechthaberei. Auffällig ist für ihn nur, dass er in der Hölderlin-Forschung häufiger auf derlei Unachtsamkeiten stößt. Hultenreich konstatiert angesichts des Umstandes, dass mancher Biograph dort, wo keine Antwort parat lag, ins Reich der Mutmaßungen auswich: »Nichts ist gefährlicher bei Hölderlin, als die Überlassung seiner Schriften an subjektive Handleserinnen.« Entgegen allen Spekulationen stellt Hultenreich dort, wo Lücken bestehen, die richtigen Fragen und resümiert: »Nur die unlösbaren Rätsel sind stark genug, Jahrhunderte zu überdauern.« Über Hölderlins Beziehungen zu Frauen schreibt er: »Nie retteten den Gefährdeten intelligentere, ferne, verheiratete Frauen, auf die er leidenschaftlich hereinfiel, weil erst das seine Lyrik beflügelte.«
Als Hölderlin schließlich im Haus des Bankiers Gontard in Frankfurt am Main eine weitere Stelle als Hauslehrer antrat, nahm sein Leben durch die Begegnung mit dessen Frau Susette eine schicksalhafte Wendung, die auch sein Werk nachhaltig beeinflusste. Die Trennung von ihr und ihr späterer Tod beförderte sehr wahrscheinlich den Ausbruch seiner Krankheit. Hölderlins Beschäftigung mit der griechischen Antike und der Arbeit an seinem »Hyperion« widmet der Autor ein eigenes Kapitel, ebenso seiner Begegnung mit den Jenaer Frühromantikern. Weit mehr als Weimar war Jena für Hölderlin eine wichtige Station, wenngleich sein Besuch bei Schiller in Jena missglückte. Im Kreis der Frühromantiker fand seine Dichtung Anerkennung; hier lernte er auch den Studenten Isaac von Sinclair kennen, der zu einem seiner treuesten Freunde wurde.
Durch zahlreiche Exkurse, in denen der Autor Zusammenhänge zu anderen Dichtern und Schriftstellern, Philosophen und Zeitgenossen herstellt, verdichtet er nicht nur sein erzählerisches Netz, sondern zeigt die historischen, gesellschaftlichen, politischen und poetisch-philosophischen Zusammenhänge auf, in denen Hölderlin lebte und dachte. Wie sie bereichern kleine Einschübe den narrativen Faden, sei es zur Mode, sei es über das Reisen zu jener Zeit oder zu Ereignissen an Nebenschauplätzen, die der Autor gekonnt einbindet. Lesevergnügen bieten allenthalben pointierte Zuspitzungen, die Hultenreich als versierter Aphoristiker zu setzen weiß. Etwa, wenn er über Schiller und Hölderlin schreibt: »Beide beherrschten den universellen Provinzialismus. Ihre begrenzte Wirklichkeit enthielt die Fülle der Welt.« Oder über Hölderlins Antrittsbesuch im Hause Gontard: »Mancher bekommt vom Schicksal so geschickt ein Bein gestellt, dass er ein Leben lang strauchelt.«
Um Hölderlins Krankheit, die nach seiner Rückkehr aus Bordeaux, wo er seine letzte Hauslehrerstelle bekleidete, zur Gänze ausbrach und ihn für 36 Jahre zeichnete, geht es in den letzten Kapiteln des Buches. In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr aus Frankreich vermochte Hölderlin die Schranken seiner Krankheit, heute spräche man von einer bipolaren Störung, noch einige wenige Male aufzubrechen und Großes mit der Übersetzung der Tragödien »Antigone« und »Ödipus« von Sophokles zu schaffen. Am Beispiel dieser Leistung zeigt Hultenreich, wie sehr der Dichter damit seiner Zeit voraus war. Selbst Schiller begriff das Wegweisende von Hölderlins Nachdichtung nicht und verlachte den Dichter, dem er zeitlebens wirkliche Anerkennung versagte. Nur wenige Freunde wie Hegel oder Schelling hielten zu Hölderlin, wenngleich es ihnen zunehmend schwerer wurde, den Freund von einst noch zu erkennen.
Hultenreich nimmt im Titel seines Buches auf Hölderlins 1798 entstandenes Gedicht »Hälfte des Lebens« Bezug, (Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See). Auch mit diesem auf die Moderne verweisenden Gedicht war er seiner Zeit weit voraus. Es waren denn auch die Expressionisten, die Hölderlin 1911 für sich entdeckten, und den bis heute grassierenden Mythos begründeten, Hölderlins Krankheit sei nur vorgetäuscht gewesen. Auch damit befasst sich Hultenreich und trennt die Spreu vom Weizen.
»Hölderlin. Das halbe Leben. Eine poetische Biographie«, ist ein Buch, das sich mit dem Begriff „Biographie“ nur unzureichend beschreiben lässt. Ich habe seit langem kein solch geistreiches Buch gelesen, dessen Autor so gar nicht auf Affektiertheit, Manierismen, falschen Glanz beim Schreiben setzt. Wie trefflich passt auf sein Schreiben der Satz des polnischen Aphoristikers Wieslaw Brudziński: »Gegen den literarischen Strom schwimmt man am leichtesten im klassischen Stil.«
Edition A. B. Fischer, Berlin 2018.
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