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Katrin Lemke
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Meisenbusch
In Kleinmachnow aufzuwachsen war ein Glück. Und vor allem der Frieden war ein Glück, auch wenn in ihn die Ruinen von Berlin hineinragten und viele Spuren des Vergangenen als Zeichen an den Lebenden abzulesen waren. Wie Schatten, wie unsichtbare Geister gingen neben ihnen ihre Toten einher. Von Großmutters und Mutters Toten war viel die Rede. Das Kleinmachnower Haus aber war unzerstört, sein Besitzer nach dem Westen gegangen. Die Frauen hatten ihn nur kurz kennen gelernt, als sie das Haus bezogen. Sie zahlten die monatliche Miete auf ein Westberliner Konto ein.
Mir, der Nachgeborenen, ist dieses Haus unzerstörbar. Einmal, ich war schon lange erwachsen und im Beruf, hatte ich am Morgen, als ich zur Arbeit ging, wahllos ein Büchlein aus dem Regal gegriffen und eingesteckt, damit ich während der Abituraufsicht, die mich erwartete, etwas zu lesen dabeihabe. Als ich es aufschlage, fällt ein kleines Foto heraus, schwarz-weiß mit gezacktem Rand: das Kleinmachnower Haus, von vorn aufgenommen. Der dunkle Holzgiebel, die breiten Fenster mit den Sprossen, der Weinstock zwischen ihnen. Ich lege das Buch beiseite, lese keine einzige Zeile, das Bild wird lebendig vor meinem inneren Auge. Ich sitze als Aufsicht im Chemiekabinett und versinke in einer anderen Welt.
Das Haus besitzt eine helle Hauptetage im Hochparterre mit einer breiten Glastür vom Wohnzimmer zum Gartenzimmer und einer zweiten nach draußen auf die hohe Terrasse. Es gibt im Inneren eine gewundene Treppe nach oben. Gründämmerige Dachstuben zwischen Baumwipfeln. Ganz unten, ebenerdig, ein gruseliges und doch verlockendes Souterrain. Dort befindet sich die Küche mit dem ratternden Essensaufzug. Und wichtiger noch: das Schwarze Loch. Ein Verbannungsort unter der Treppe für ungehorsame Kinder. Zum Glück mehr Drohung als Vollzug.
Das Schönste in meiner Erinnerung aber ist der Garten. Eigentlich ein Stück mühsam zurückgehaltenen Waldes, der mit seinen Baumarmen über die Hauswände streicht. Rechts und links am Zaum Stachelbeerbüsche und Johannisbeeren. Die nennt Oma Ribisl. Hinten links ein Erdbeerfeld. Ansonsten Wiese. Fräulein (wir sagen: Frolln) Anni – unsere Hausgehilfin – hängt hier die Wäsche auf, Erika baut Buden, Herbert klettert auf die große Birke am Haus und von dort in seine Dachkammer hinein. Er hat mit seinem Freund Karl-Heinz ein Stück Eisenkette angeschleppt, die aussieht, als stamme sie aus der Hinterlassenschaft eines riesigen Kriegsfahrzeugs. Die hängt jetzt am Baum und taugt zum Aufsteigen. Mein Schaukelpferd steht im Garten, eine Decke liegt auf der Wiese, Frolln Anni erlaubt mir, mit ihrem Puppenjungen Franz, der fast so groß ist wie ich, zu spielen. Wenn ich sehr vorsichtig bin! Eigentlich kann man gar nicht mit ihm spielen, man kann sich nur mit ihm messen, neben ihm stehen oder sitzen. Er hat ein freundliches Gesicht, bleibt aber ganz steif, unlebendig und unbeweglich. Einmal höre ich, wie Mutti zu Oma sagt, das sei wohl das Kind, das Anni hätte bekommen sollen. Ach, hätte sie doch ihren Verlobten, der gerade Soldat geworden war, damals eingelassen, für diese eine, seine letzte Nacht zu Hause. Warum hat sie nein gesagt, als er darum bat? So war er ohne ihre Liebe an die Front gegangen und fast sofort gefallen. Jetzt hat Anni nur einen toten Verlobten – und Franz, den Puppenjungen.
Wenn es heiß wird im Sommergarten, hüllen mich der märkischen Sand, die Beeren und die Kiefern in eine würzige Duftwolke, die, wo immer sie mir später begegnet, Kleinmachnow auferstehen lässt. Ich bekomme eine Zinkwanne mit Wasser zum Baden und Spielen auf die Wiese gestellt, packe meinen Puppenwagen – für normalwüchsige Puppenkinder – ein und aus, spiele mit Ssiss-Karli Muttervaterkind. Er gefällt mir nicht besonders als Vater meiner Familie. Er hat immer eine Rotznase und stößt bei allen Zischlauten mit der Zunge an, aber es steht kein anderer zur Verfügung. Es gibt nur wenige Kinder in Kleinmachnow. Ssissen heißt eigentlich schießen. Karli sagt: Mein Papa hat aussm Krieg ne Pisstole mittebracht, wenn ich groß bin, darf ich damit ssissen. Oma schüttelt den Kopf, sie sagt, Ssiss-Karlis Vater sei ein Nazi gewesen … Ich spüre den Schrecken, den dieser Begriff auslöst. Er begegnet mir, sieben Jahre nach dem Krieg geboren, immer wieder und zeigt eine vergangene, aber heillos nachwirkende Gefahr an. Auch deshalb ist mir Ssiss-Karli nicht ganz geheuer. Aber, sagt Oma, er kann doch nichts dafür! Er ist doch ein Kind!
Ich finde trotzdem, er sollte sich die Nase putzen.
Auch die Straße ist ein spannendes Feld. Meisenbusch, ein beinahe zärtlicher Name, den ich mag, weil ich ihn mir vorstellen kann: lauter Meisen, kopfüber hängend, piepsend und pickend im Gesträuch. Das gibt es hier zwar nicht, insofern ist der Name Meisenbusch eher eine Wunschvorstellung, ein aufmunterndes Naturbild. Stattdessen gibt es Krähen, die in den hohen Kiefern sitzen und immer hörbar sind mit ihrem Gekrächze. Erika behauptet, wenn man den Weg vom Gartentor zur Haustür nicht sehr schnell zurücklege, kämen sie von oben, zögen einem die Mütze weg und hackten auf dem Kopf herum. Lange Zeit renne ich diesen Weg. Zumindest so lange ich dieses schaurige Märchen glaube.
Geschwister
Jedes Kind meiner Familie erhält seine Prägung. Teils als schmerzhaft eingedrückten Stempel, teils als üppiges Geschenk. Zuerst meine große Schwester Erika, die sich Eika nannte, 1943 in Reichenberg geboren, das später Liberec hieß, mitten im Krieg. Vielleicht war es einfach nur trotzig gemeint, auf jeden Fall aber als eine Selbstbezichtigung, ihr frühes „Eika, böse Eika“, eine eigenartige Kennung, die sie sich mit zwei Jahren selber gab, das ö als ie intonierend. Das riefen Mutter und Tanten ihr bei ihren häufigen Trotzanfällen immer wieder nach: Siehst du, schon wieder bist du „Eika, biese Eika“!
Aber Erika, 1943 geboren, war unserer Mutter erstes Kind, sie wurde gehegt und gepflegt, eingestrickt und gut gefüttert. Trotz des Krieges. Alle Hoffnungen ruhten auf ihr, ihr Name zeigt an, wie sehr sich Lieselott für ihr Kind die väterliche Nähe wünschte. Aber Erich, von Beruf Tischler, ist Soldat an der Front. Er kann nicht bei seiner Familie sein, wie er will und wie sie es will. Seine Briefe kommen aus Polen, aus Frankreich, von der russischen Front. Ein paarmal kriegt Erich Urlaub, manchmal nur, um seine Wunden auszuheilen für den nächsten Fronteinsatz. Ein vollständiges Familienleben sollte es für diese beiden nicht geben. Niemals.
Herbert, mein Bruder, wurde im Juli 1945 geboren. Über seiner Geburt standen keine freundlichen Sterne. Er war in einem der letzten Kriegsurlaube seines Vaters Erich gezeugt worden. Lieselott trug ihn aus, indem ihre Sorge um Erichs Überleben an der Front ständig wuchs. Und auch die Angst, wie es mit ihr und den Kindern, mit allen Sudetendeutschen weitergehen werde. Ihre Eltern Gustav und Elisabeth, überzeugte und tatkräftige Antifaschisten, waren 1938 nach London emigriert. Lieselott hatte nicht mitgehen wollen, war damals gerade 20 Jahre alt und dabei, eine eigene Familie zu gründen. Jetzt, sieben Jahre später, im Frühjahr 45 schreibt sie sehnsüchtige, fast verzweifelte Briefe an ihre Mutter, ach, wäre sie doch nur mitgegangen, könnte sie doch gleich heute ihre Erika einpacken und zu ihnen kommen, sie würde es unverzüglich tun, aber so, in „diesem Zustand“? Als der Geburtstermin näher rückt, wird ihre Situation immer bedrückender. Sie ist nur mit Mühe in der Lage, den 8. Mai 1945 als Hoffnungstag zu empfinden, denn sie hält Erichs Vermisstenanzeige in den Händen. Lebt er überhaupt noch? Verschollen. Und das obwohl doch dieser verfluchte Krieg gerade zu Ende gegangen ist, obwohl Erich doch erst im April noch – verwundet zwar, aber am Leben – in einem Prager Lazarett gelandet war. Damals hatte sie den Gedanken an Desertion, er solle doch „einfach abhauen“, sich bis Reichenberg durchschlagen, das kaum mehr als eine Eisenbahnstunde von Prag entfernt lag. Aber das hatte Erich weder gekonnt noch gewollt. Und so war er als Kriegsgefangener in den allerletzten Kriegstagen noch in den Weiten Russlands verschwunden, wie sich später herausstellte. Der Frieden übrigens, so schreibt Lieselott ihrer Mutter, sehe nicht wirklich nach Frieden aus, die Tschechen waren dabei, den Spieß umzukehren. So wie 1938 die Deutschen die Tschechen behandelt haben, so tun diese es nun umgekehrt, findet sie. Und sie erlebt Anfeindungen, ihre antifaschistische Haltung und die Exilkämpfe ihrer Eltern spielen überhaupt keine Rolle. Ob sie denn nachweisen könne, dass sie Antifaschisten waren? Behaupten könne man viel, bekommt sie auf dem Einwohneramt zu hören. Als der Kleine geboren ist, im Juli 45, kommt Lieselott aus der Klinik nach Hause und weiß nicht mehr weiter. Aber Tante Alice, Schwester ihrer Mutter, ist da für sie. Sie hilft ihr die Kinder zu betreuen, Ämtergänge zu erledigen, die drohende Aussiedelung vorzubereiten. Ach Mutterle, schreibt die 27-Jährige nach London, hier gibt es keine Zukunft für uns.
Herbert geht fast unter in diesen Lebenssorgen. Als die Großeltern aus London zurückkehren, tritt mehr Ruhe und Fürsorge für ihn ein. Sie bringen dem mageren kleinen Kerl „Cow and Gate“ mit, einen nahrhaften Milchersatz. Und sie stehen Lieselott, Alice und den Kindern bei, die Umsiedelung zu bewältigen. Aber zur Besinnung kommt die Familie eigentlich erst, als Lieselott und Elly zusammenziehen. Im Frühjahr 1947. Zwei Frauen und zwei Kinder. Frolln Anni und ich kommen erst später dazu.
Wie es kam, dass Herbert schließlich mehr beachtet und verwöhnt, ja sogar mit Hoffnungen überfrachtet wurde, weiß ich nicht. Sollte dieses Verhalten der Frauen verdecken, dass sie sich zwar dem Großziehen von Töchtern, nicht aber dem eines Sohnes gewachsen fühlten? Unser Haushalt war ein Frauenhaushalt. Herbert wurde zum Alleskönner gekürt, zum besonders Begabten und „einzigen Mann im Haus“, auf den – so waren sich die Frauen sicher – sein Vater besonders stolz gewesen wäre. Wenn er denn Vater hätte werden können. Aber für Erich hatte es nur Fronteinsätze gegeben. Wer weiß, was er erlebt hat? Er war nicht freiwillig in den Krieg gegangen – für diese sechs kaum unterbrochenen, qualvollen Jahre. Zum Schluss noch die Gefangenschaft, in die er schon als Kranker, verletzt durch Schüsse, hineingeraten war. Und schließlich die schwere Malaria. Im Herbst 1946 war Erich, fünfunddreißigjährig, noch einmal heimgekehrt, aber nur um zu sterben. Da ist Lieselott mit den Kindern schon in Halle in einer kleinen Dachwohnung gelandet. Sie sieht seinen Tod anfangs noch nicht, will ihn nicht sehen, kämpft um Medikamente, will, dass er in ein Sanatorium aufgenommen wird. Aber es gibt zu viele Fälle von gleicher Bedürftigkeit. Sie sagt ihm, wir schaffen alles, Erich, Hauptsache, wir sind zusammen. Er schüttelt den Kopf. Nimm die Kinder mit hinaus, die sind so laut, soll er gesagt haben. Das schreibt Lieselott ihrer Mutter. Aber Erich, habe sie erwidert, wir haben doch eine Zukunft. Jetzt wird alles gut.
Du hast eine Zukunft, habe Erich da erwidert, ich nicht.
So wurde Erich, der Tischler, der bald darauf starb, nur ein Vermächtnis, ein Tatbestand, der den Jungen fast erdrückte, ihn schutzlos, hilflos, jähzornig werden ließ. Er musste zeitig in seinem Leben größer und geschickter sein, als er konnte. Sein Anspruch an sich selbst: immer der Erste, der Beste sein. Eine schwere Last. Da war Eikas Trotzposition einfacher, wenn auch nicht fröhlicher: Lieber biese sein, dann war das Erschrecken Sache der anderen, nicht die eigene. Herbert musste den Schrecken ertragen, der aus ihm selbst kam. Und den, der von außen auf ihn herunterbrach. Es gab nur den Schatten eines Vaters. Nichts zum Festhalten.
Zu Pfingsten 1946 hatte also meine Mutter die Sachen packen und aussiedeln, wegziehen müssen aus Reichenberg. Heimatverlust. An der Hand eine Dreijährige und im Kinderwagen den fast Einjährigen. Hoch darüber getürmt so viel Gepäck wie möglich. Aber immerhin noch eine halbe Waggonladung Sachen dazu, die sie mit ihren Tanten, den Schwestern ihrer Mutter, und deren Familien teilte. Ihre Eltern waren jetzt – pro forma – anerkannte Antifaschisten, England-Emigranten, deshalb der genehmigte halbe Waggon. Trotzdem Filmriss. Eine Reise ins Unbekannte. Für die 100 km zwischen Reichenberg und Bad Schandau an der Elbe brauchten sie drei Tage. Ein unfreiwilliges „heim ins Reich“, nun in anderer Richtung. Dieses „Reich“ war meiner Mutter fremd, es war ungeliebt, es hatte sich 1938 nach Böhmen hineingedrängt und ihre Eltern vertrieben. Jetzt, wo es selbst wieder ausgetrieben war, wurde sie ihm nachgeschickt. Logik dieses Krieges. Erst Halle, dann Berlin. Fremde Orte, fremde Mundarten. Doch dann endlich – Kleinmachnow, das wie eine heile, helle Insel im kriegszerstörten Deutschland winkte. 1947. Da war schon ein heimatloses Jahr vergangen, das den zwei Frauen zwei Todesfälle gebracht hatte. Jetzt waren sie Witwen, lange vor der Zeit.
Für mich, erst später geboren (da hatte es vorübergehend jene neue Hoffnung mit Fritz gegeben, der zwar nicht blieb, aber doch mein Erzeuger wurde), für mich hatte die Dreierreihe, die wir Geschwister bald bilden würden, eine Rolle parat, die ich bald durchbrechen sollte: die des „lieben kleinen Dinges“. Omas Stoßseufzer: die Kleine ist ein liebes Kind, ok die Großen machen sie manchmal böse!
Dieses ok gibt es nicht mehr. Ein verhärtetes und verkürztes auch oder nur. Ich höre es noch manchmal in der Lausitz, kumm ok! Sogar: kumm oke! Die Frauen hatten es von daheim mitgebracht, es blieb in ihrer Alltagssprache zeit ihres Lebens. Mit ihnen starb es dann. Jedenfalls hier, in der Mitte des Landes, das nun DDR hieß.
Die zugedachten Rollen sind einem auf den Leib geschrieben und haben ihre lebenslange Wirkung. Zumindest dann, wenn man sie nicht durchbrochen hat. Aber selbst dann: Sie sind auch in ihrer Negierung, im Versuch, sie abzuwerfen, noch wie eng anliegende Kleider, die, egal, ob es einem gefällt oder nicht, immer am Körper kleben bleiben und weiter mitwachsen wie die Haut. Sogar geflickt, vernarbt. Alle späteren Rollen sind wie Mäntel. Man trägt sie allenfalls darüber.
Erichs Schlitten
Zu Kleinmachnow gehört noch mehr. Die Vision jenes Winters, in dem ich dort auf die Welt kam. Angekündigt und berechnet für Mitte Dezember wurde ich ein „übertragenes Kind“ – eine Benennung von geheimnisvoller Bedeutung. Zu viel getragen? Eigentlich, meine ich, kann man gar nicht genug getragen werden, ich lasse mich später gern tragen, sitze auf Omas Schoß, auf Herberts Schultern, auf allen möglichen Armen.
Anni und Oma erzählen die Geschichte der Silvesternacht, in der schließlich das Getragensein ein Ende fand: Und da haben bei Lieselott die Wehen eingesetzt, und dann haben wir kein Taxi mehr bekommen, weil es nur ein einziges in Kleinmachnow gab und der Fahrer gesagt hatte, er fahre nicht in der Silvesternacht, und da hätten sie Lieselott warm eingepackt und auf den großen Schlitten, den mit dem Gurtgeflecht, gesetzt, den Erich vor dem Krieg noch gebaut hatte, und dann haben sie Lieselott durch das verschneite Kleinmachnow gezogen, vom Meisenbusch bis zum Krankenhaus. Und dann habe es auch gar nicht mehr lange gedauert, bis ich auf der Welt war. Gerade beginnt das Jahr 1952.
Gut, dass es den großen, stabilen Schlitten mit dem Gurtgeflecht gibt. Und auch ein bisschen traurig: der, der ihn wie für die Ewigkeit gebaut hatte, vielleicht 15 oder 16 Jahre zuvor, Erich, der Tischler, ist nicht mehr am Leben. Lebte er noch, säße seine Frau nicht mit dem Kind von einem anderen Mann im Bauch auf seinem Schlitten und würde von Oma und Anni durch das verschneite Kleinmachnow zur Entbindung gezogen. Dann wäre auch ich noch sein Kind geworden. Aber er ist schon fort. Die Väter der Familie hatten nur kurze Aufenthalte bei den Frauen. Sie waren Flüchtige, die nur Station machten, bevor sie in den nächsten Einsatz mussten. Immer zog sie etwas von ihren Kindern und Frauen fort, ein tödlicher Krieg, eine höhere Pflicht oder eine andere Liebe. Für Kinder macht das wenig Unterschied. Die Väter fehlten.
Der Schlitten war geblieben, er wurde immer „Erichs Schlitten“ oder „der Große“ genannt. Deshalb rodelten auch „die Großen“, Erika und Herbert, auf ihm. Für mich so zum Herumrutschen, sei er zu schwer. Ich bekam schon bald zu Weihnachten einen kleineren, leichteren. Der hatte aber nur Holzleisten zum Draufsetzen, keine Gurte. Und er sauste nicht halb so schnell den Rodelberg hinunter, der ein eingewachsener Kriegsschutthaufen war. Immer schielte ich nach dem Großen – mit dem Gefühl, von etwas Besonderem ausgeschlossen zu sein, wenn ich nicht auf ihm rodeln durfte. An diesem Schlitten schieden sich die Geschwister. Schließlich aber machte gerade er mir ein besonderes Geschenk.
Einmal nämlich holten mich Herbert und sein Freund Karl-Heinz, vom Rodelberg kommend, mit Erichs Schlitten vom Kindergarten ab. Es war ein später Nachmittag und es dämmerte am Himmel mit Farben, die ich aus dem Tuschkasten kenne. Die beiden Elfjährigen haben keine Lust, eine Fünfjährige vom Kindergarten abzuholen, sie sind ruppig. Ich kriege den Befehl, mich auf dem Schlitten richtig festzuhalten, jetzt gibt’s Tempo! Und dann rasen sie los, dass die Schlittenschnur sich straff spannt. Durch den Ruck falle ich nach hinten auf die geflochtene Sitzfläche und habe plötzlich einen verblüffenden Blick – von ganz unten bis zum Himmel. Rechts und links Häuser, Bäume, Zäune, die vorbeiflitzen. Ich rutsche noch ein bisschen weiter nach hinten, über die Gurte hinaus, so dass der Kopf nach unten baumeln kann. Und da ist der Anblick Kleinmachnows noch schöner. Das rasende Kehrbild beglückt mich. Ein Film, der mit mir Hals über Kopf davonläuft. Eine ganz andere Welt, als ich sie, Kopf oben, aus Augenhöhe sehe. Mehr! Davon will ich mehr sehen, in diesem lilarosa Abendglanz. Ich schiebe mich noch etwas weiter nach hinten – aber da ist es auch schon zu weit und ich rutsche vom Schlitten auf die Straße. Nein, nichts passiert, ich rapple mich hoch und reibe meinen Hinterkopf, nicht der Rede wert. Bloß – die Jungen merken nichts. Sie rennen weiter. Der schwere Schlitten vermeldet nichts von seiner verlorenen Last. Ich rufe so laut ich kann. Sie hören mich nicht. Und es braucht eine ganze Weile, bis sie, langsamer werdend, merken, dass der Schlitten leichter geworden ist. Umkehr. Sie sind wütend, dass sie nochmal zurück müssen wegen so einer blöden Göre.
Mir aber gehört ab jetzt der rasende Hals-über-Kopf-Film von Kleinmachnow, so wie mir schon lange das ruhige, stehende Bild des Städtchens gehörte.
Die Gebrüder Blüthner
1958 hatte meine Mutter ihre Dissertation abgeschlossen und verteidigt. Über Gotthold Ephraim Lessing und „die erzieherische Wirkung seiner Werke“. Nun stand an, sich um eine Arbeitsstelle an einer der Universitäten zu bewerben. Greifswald? Jena? An beiden waren Stellen für einen Oberassistenten frei, also fuhr Lieselott zuerst in die eine, dann in die andere Stadt, um zu sehen, wo sie sich ansiedeln möchte. Sie guckte sich die Städte an, nicht die Arbeitsstellen. Die würden schließlich so ungefähr dasselbe von ihr verlangen: Ausbildung von Lehrerstudenten. Aber wie man sich in einer Stadt und der umliegenden Landschaft fühlt, das erschien ihr wichtig. Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer: Jena bot Berge und viel Grün, es hatte etwas anheimelnd Kleinstädtisches durch die Lage im Talkessel und die Überschaubarkeit des eigentlichen Stadtzentrums. 400 x 500 Meter Altstadt. Viele Institute der Uni in wenigen Minuten zu Fuß erreichbar! Das Hauptgebäude lag in der nordöstlichen Ecke. Auch ähnelte die gebirgige Gegend ihrer alten böhmischen Heimat. So entschied sich meine Mutter für Thüringen. Im Frühsommer des Jahres 58 fuhr sie mit Erika, jetzt 15 Jahre alt, nach Jena voraus, um eine Wohnung für uns auszusuchen.
Sie wohnten zuerst in der Fraunhoferstraße in einem Uniwohnheim, mitten im prächtigsten Villenviertel der Stadt. Von hier aus erkundeten sie die Wohnlagen und entschieden sich schnell für eine Wohnung mitten in der Innenstadt, in der Frauengasse. Warum sie nicht ein bisschen geduldiger gesucht hätten, fragte meine Großmutter später, vielleicht hätten sie ja auch in einem der schöneren Wohnquartiere, unter dem Landgrafen oder in den Kernbergen, eine Möglichkeit gefunden? Aber Lieselott hatte ihre eigenen klaren Vorstellungen. Auf Repräsentanz der Wohnlage kam es ihr nicht an, schließlich waren alle Menschen gleich und sie ganz ohne Dünkel oder soziale Vorbehalte. Sie achtete eher auf die praktischen Seiten. Außerdem musste es schnell gehen, lange zu suchen war nicht möglich, ihre Arbeit sollte im September beginnen, also mussten wir spätestens im August nach Jena gezogen sein. Sie entschied sich für eine Vierzimmerwohnung in der Frauengasse. Mir erschien das ferne Jena, von dem in den letzten Kleinmachnower Sommerwochen oft gesprochen wurde, als eine ganz besonders frauenbetonte Stadt, allein durch die Namen zweier Straßen.
Vor dem Haus Nr. 63 im Meisenbusch stand also an einem Augusttag des Jahres 1958 ein dickes, rotes, innen gepolstertes Möbelauto mit der Aufschrift Gebrüder Blüthner. Zu meinem Erstaunen schleppten mehrere schwitzende Gebrüder unsere Möbel durch den Garten hinaus auf den sandigen Bürgersteig und bauten sie dann in den Innenraum des dicken Autos ein – wie in ein neues Wohnzimmer, nur viel enger verschachtelt. Lachend wurde uns angeboten mitzufahren, wir könnten uns in die Sessel setzen und einfach gleich mit den Möbeln umziehen. Die Familie fuhr aber doch lieber per Bahn. Ob ich, mit erst sechs Lebensjahren, während der Fahrt von Berlin nach Jena die Schönheit der Saalelandschaft bei Weißenfels und Naumburg schon erkannte? Später habe ich sie lieben gelernt. Sanft gebuckelte Weinberge und Burgen oben drauf! Eine Landschaftsüberraschung.
Anni kehrte nach einigen Tagen wieder nach Kleinmachnow zurück. Sie hatte vor, im Röhrenwerk Teltow arbeiten zu gehen und nicht weiter eine so unzeitgemäße Stellung wie die einer Hausangestellten zu bekleiden. Der Abschied fiel ihr nicht leicht. Wir waren schließlich ihre Familie gewesen, nicht nur eine Art „Dienstherrschaft“, zumal Mutti und Oma sie nicht als Angestellte behandelten, sie in ihre Entscheidungen einbezogen, sie achteten und nahmen, wie sie war. Mich hat Anni immer ein bisschen als eigenes Kind angesehen. Beim Kochen durfte ich auf ihrem Arm sitzen, mich an ihrem Hals festhalten und von oben in die Töpfe gucken, in die sie mit der anderen Hand den Holzlöffel tunkte und mit ihm darin herumrührte. Dabei hatte sie mir mit ihrer schönen rauen Stimme Seemannslieder vorgesungen. „Antje, mein blondes Kind“. Das Lieblingslied ihres toten Verlobten. Und sie hatte mir von ihrem Zuhause erzählt, das in Pommern lag, weit weg und versunken.
Frauengasse
In die Frauengasse zogen zuerst nur Erika, Herbert, Mutti und ich ein. Auch Oma fehlte. Das Dreifamilienhaus war eine Villa aus den 1920er Jahren, die Wohnung hell und durchaus modern. Sie hatte eine Zentralheizung, die vom Keller aus zu bedienen war, Parkett und große Fenster, eine geräumige Küche mit Speisekammer und ein Bad mit Gasboiler. Das Wohnzimmer besaß einen ausgebauten Erker, in dem Sessel und ein Tischchen stehen konnten, und eine Glasschiebetür zum benachbarten Zimmer. Schön. Wir waren einverstanden. Zumal uns ein Stück Garten gehören sollte, in dem man spielen, Wäsche aufhängen, in der Sonne sitzen oder in der Erde buddeln konnte. Herbert und ich bekamen zusammen das querliegende Zimmer am Ende des langen Flurs, die beiden verbundenen Zimmer wurden Wohnzimmer. Eins davon mit einem Gästesofa. Und im Schlafzimmer – Erichs wuchtige Tischlermöbel waren mit umgezogen – kampierten Mutti und Erika. Da Oma sich eine kleine Wohnung in Kleinmachnow genommen hatte, war sie zunächst nur besuchsweise da. Sie zögerte offenbar, ganz mit uns zu ziehen. Wollte sie ihre Tochter dazu bringen, sich allein um sich selbst und ihre Kinder zu kümmern? Oder hatte meine Mutter darauf bestanden, noch einmal einen Anlauf in ein eigenes Leben zu wagen, in dem sie nicht beständig Tochter war? Nach einem Jahr aber war das Experiment kläglich gescheitert und Oma wohnte wieder bei uns.
Mich interessierte die Wohnung weniger als die Frauengasse, in die es uns verschlagen hatte. Was für eine kuriose neue Heimat! Manchmal, wenn ich über Kleinmachnow nachdachte, das für meine ersten sechs Lebensjahre ein ebenso schöner wie geschützter Raum zum Aufwachsen gewesen war, stand vor mir die Frage, warum ich nicht getrauert habe, als wir wegzogen. Ich wusste komischerweise ganz genau, dass jetzt etwas Neues beginnen würde, dem ich gespannt entgegensah. Ich war auch nicht enttäuscht über das neue Wohnquartier, das bei weitem weniger idyllisch war als das Kleinmachnower. Alles Neue war hochinteressant und regte meine Fantasie an. Erwachsene unterschätzen oft den unbelasteten Pragmatismus von Kindern. Sie übertragen ihre eigenen Gefühle, die mit ihren Erfahrungen zusammenhängen, auf die Kinder, die weder solche Erfahrungen noch Gefühle haben können, einfach weil sie noch nicht genug erlebt haben. Kinder lernen erst zu vergleichen. Ich war jedenfalls von dem Moment an, wo der gepolsterte rote Möbelwagen aus dem Meisenbusch ausbog und verschwand, in Gedanken schon abgereist und unterwegs in jene „Stadt der Frauen“ mit dem weichen Namen Jena, der eigentlich auch fast wie ein Frauennamen klang. Ich hatte Vertrauen, lebte nach vorn. Also tat der Abschied nicht weh.
Es muss gleich am Tag nach unserem Einzug gewesen sein, da klingelte ein ganz und gar unbekanntes, vielleicht 10-jähriges Mädchen an unserer Tür und fragte meine öffnende Mutter nach kurzem Drucksen: Kommt das Kind raus? Ich stand in Hörweite und war verblüfft. Wie hatte denn das fremde Mädchen so schnell mitbekommen, dass es hier „ein Kind“ gab? Zugleich war mir bewusst, dass ich nie und nimmer denselben Mut gehabt hätte wie sie, von Unbekannten etwas so direkt zu verlangen oder zu erfragen! Stark. Sie schien mir reif, fast erwachsen. Meine Mutter drehte sich zu mir um, aber da war ich schon dabei, selbst die Antwort zu geben. So schnell ging das – in der Frauengasse anzukommen.
Die Fragerin hieß Regina. Sie wohnte in der Kneisl-Villa schräg gegenüber. Regina war ein besonderes Mädchen. Sie hatte braune Locken und eine sanft bräunliche Haut, das Auffälligste aber war die Farbe ihrer Lippen. Sie waren wirklich himbeerrot. Ich fand Regina fast so schön wie meine große Schwester Erika. Und es war einfach wunderbar, dass sie mich gewissermaßen erwartet hatte.
So leicht war also der erste Kontakt im fremden Jena entstanden und ich rutschte wie von selbst in die Kinderwelt der Frauengasse hinein, die sich jeden Tag auf’m Schutt versammelte. Zu ihr gehörten Regina und ihr kleiner Bruder Jürgen, Bärbel und Peter aus der Frauengasse 9 und eine weitere Regina aus Nr. 21 mit zwei Brüdern. Elvira kam aus der Nr.15 und vom Eisenbahndamm gesellten sich Heidi, Manfred und Sylvia dazu. Aus dem abgeblätterten, putzlosen Backsteinhaus Frauengasse 1 stammten fünf ziemlich ungewaschene Gebrüder, von denen immer ein paar mit von der Partie waren. Aus der Frauengasse 13 kam Julchen. Sie war schon 12 wie mein Bruder Herbert, aber klein und schmächtig. Auch sie verblüffte mich durch ihre schöne Direktheit, mit der sie mir vorschlug, doch, wenn ich herauskäme, stets ein paar Marmeladenbrote mitzubringen, sie habe eigentlich immer Hunger. Da sie in einem der besseren Häuser der Frauengasse wohnte, verblüffte mich dieser Wunsch. Hatte sie denn kein Zuhause zum Sattwerden? Sie hatte mir gleich bei unserer ersten Bekanntschaft mitgeteilt, dass ihr Vater Diplomingenieur sei, was wie Blumeningenieur klang. Ein schöner, blühender Beruf, stellte ich mir vor. Was die Marmeladenbrote betraf, so glaube ich, Julchen wollte einfach bei Hunger nicht wieder nach Hause gehen. Schließlich war man ja nie sicher, ob man dann wieder zurück auf die Straße durfte.
Der Name unseres Spielterrains kam tatsächlich davon, dass noch vor kurzem hier Schutt gelagert hatte. Der Platz war etwa so groß wie die Fläche des Hauses, das es nicht mehr gab. Es war den Bomben des Frühjahres 1945 zum Opfer gefallen. Sein Fehlen machte sich auch in der Reihe der Hausnummern bemerkbar, die nun nicht mehr lückenlos und logisch war. Was aber das Allermerkwürdigste in der Frauengasse war: Sie hatte Kopfsteinpflaster. So etwas kannte ich nicht. Schon gar nicht so ein kindskopfgroßes, rötlich-gelbes Gebuckel, ausgefahren von den dicken, ungelenken Bussen des Kraftverkehrs, die sich täglich hier hindurchwälzten, denn ausgerechnet diese enge, holperige Gasse beherbergte den städtischen Kraftverkehr. Seine Zentrale war jene Kneisl-Villa, in der Regina wohnte. Wer aber deren Namensgeber, wohl ein Herr Kneisl, war, erfuhr ich nie. Die Frauengasse war also sowohl eine Wohn‑, als auch eine Arbeitswelt – auf engstem Raum. Ein Konglomerat aus Häusern und Menschen, aus Bussen und schiefen Laternen, aus versteckten Gärten und dem Krach von Fahrzeugen und Maschinen. Die Wohnhäuser von sehr unterschiedlicher Breite und Höhe duckten oder erhoben sich in zwei mehr oder weniger geschlossenen Reihen von Nord nach Süd. Sie wirkten wie ein unregelmäßig gewachsenes Gebiss. Manche waren noch nicht einmal an die öffentliche Kanalisation angeschlossen, hatten Pumpen im Hinterhof und Plumpsklos. Aber die Bewohner der Frauengasse, zu denen – entgegen meiner ersten Vorstellung – natürlich auch Männer gehörten, waren freundlich und kinderlieb. Und ziemlich neugierig. Sie legten sich gern Kissen in die geöffneten Fenster, guckten uns Kindern beim Spielen zu. Eine Mikrowelt aus den unterschiedlichsten Menschen und ihren hin- und herlaufenden Gesprächsfetzen, Fragen und Zurufen. Nichts Wichtiges blieb geheim. Und der Schutt war die Zentrale: ein Umschlagplatz für Kontakte und Informationen.
Und natürlich ein Sportplatz! Wir kratzen Hüppekästchen in den Boden und sprangen drin herum. Die Eisengeländer, deren ursprüngliche Funktion ich mir nicht erklären konnte, luden dazu ein, alles was wir im Sportunterricht lernten, hier zu üben, vorrangig Felgaufschwünge. (Was für ein Wort! Unter all dem Neuen hatte ich gerade die Teufelslöcher kennen gelernt, den runden, gehöhlten Fels am Ende der Wöllnitzer Straße. Deshalb vielleicht verstand ich Felsaufschwung.) Das Beliebteste aber war: von den Kniekehlen aus, entspannt nach unten hängend Schweinebammel zu machen, vorausgesetzt, man hatte als Mädchen Turnhosen statt eines Rockes an. Später kamen Federballspiele auf. Und die Jungen spielten Fußball.
Aber ich hatte ja auch noch eine andere Ausfallrichtung zum Spielen und Herumtreiben: den Bahndamm hinter unserem Haus! Hier konnte man ebenfalls an Eisengerüsten klettern. Die waren in Abständen von vielleicht 50 Metern zur Stützung des Dammes angebracht. Sie kamen etwa einen Meter über dem Boden aus der Mauer des Bahndammes heraus und reichten bis zur oberen Kante. An ihnen zu klettern war gefährlich, machte aber Spaß. Der Bahndamm war übrigens kein hässliches Bauwerk, er hatte große, unregelmäßig behauene Natursteine als Fundament und eine Krone aus ebensolchen, aber etwas kleineren Steinen. An seiner Rückseite, die zur Saale zeigte, war der Bahndamm ein grün bewachsener Wall. Dort konnte man hinaufklettern, um die Züge ganz nah zu sehen und ihren heftigen Zugwind wie einen Schlag abzubekommen. Auch das war gefährlich. Aber es wollte ausprobiert sein.
Der Bahndamm bot überhaupt allerhand Vergnügungen. Man konnte Zählspiele veranstalten: wieviel Wagen hat der Zug? Gerade Zahl: Glück, ungerade Zahl: Unglück. Man winkte den Leuten an den offenen Fenstern zu und rief auch ab und zu Frechheiten hinauf, die keinen störten, weil sie im Geratter untergingen. Und am Bahndammweg konnte man etwas noch viel Besseres tun, nämlich Fahrradfahren. Parallel zum Damm verlief ein Radweg. Er reichte von der Fischergasse und der Stadtgärtnerei bis zum Anger. Wer so „hoch zu Ross“ durch die Welt radelte, der war schon fast kein Kind mehr. Und ein Neuankömmling erst recht nicht.
Sprachverwirrungen
Es kam dann fast täglich dazu, dass eins von den Kindern der Frauengasse an unserer Tür stand und fragte: Kommst du raus? Mein Bruder adaptierte für sie den thüringischen Begriff Wanst, im Plural Wänster. „Ein Wanst für dich!“ rief er, wenn jemand für mich an der Tür klingelte. Ich fand diese Bezeichnung verächtlich und kränkend, waren die Kinder der Frauengasse doch meine Freunde. Mein Bruder übrigens gehörte nicht dazu, er kam nicht mit auf‘n Schutt. War er schon zu groß? Auf jeden Fall verpasste er gerade das, was ich an der Frauengasse liebte.
In ihr lernte ich die Sprache kennen, die mich ab jetzt umgeben würde. Einen Wanst hätte man in Kleinmachnow Gör oder Jör genannt. Dort hatte man z.B. auch von Brause gesprochen, in Jena benutzte man den Begriff Limmenade. So hörte sich das Wort für das süße Geschlabber jedenfalls an. Wenn man sich einen blauen Fleck geholt hatte, dann hatte man sich gerammelt. Was eine Schnitte oder Stulle gewesen ist, war ab jetzt ein Brot – ein Begriff, den ich bislang für das große Ganze benutzt hatte. Schrippen gab es gar nicht mehr, das waren jetzt Brötchen oder Semmeln. Und später, beim winterlichen Rodeln den Fuchsturmweg oder den Saalehang hinunter, brüllte man kurioserweise: Bahni frei – Kartoffelbrei! Oder: Bahniii – Kartoffelbrüh! Eigentlich eine sinnlose Wortkombination. Vielleicht aus Zeiten stammend, in denen Kartoffeln ein wesentlicher Beitrag zum Überleben waren? Vielleicht auch nur eine zufällige Zusammenstellung, die vom Humor ihrer kindlichen Urheber zeugte.
Eine entsetzliche Sprachentgleisung leistete sich die Verkäuferin aus dem einzigen Süßwarenladen, den ich damals in Jena kennenlernte. Dieser Laden lag in der Johannisstraße; in seinem Schaufenster stand ein großes Glas voller Lutscher. Ich habe einen Groschen in der Hand und will mir einen kaufen. Also sage ich zur Verkäuferin: Einen Lutscher bitte! Hammernich, bekomme ich zu hören. Doch, sage ich schüchtern, da in dem Glas! Ach, du meinst‘n Leckmadran? Ohne hörbares L in der Mitte. Bei diesem Wort war mein Erschrecken über die Thüringer Sprache komplett. Ein Leck-mal-dran! Das war ja ein ganzer Satz, der hier zur Bezeichnung eines kleinen, unwichtigen Gegenstandes diente, der sich in Minutenschnelle mittels reichlich Spucke in nichts auflösen würde! Grotesk.
Julchens Mutter, Frau Z., die ich sehr gern hatte, weil sie sich öfter mal mit mir unterhielt und man ihr anmerkte, dass sie gern lachte, erzählte mir viel später, sie habe mich nach ein, zwei Monaten Leben in der Frauengasse gefragt, wie es denn mir und meiner Familie in Jena gefiele. Und sie – eine gebürtige Dresdnerin – habe sich sehr über meine Antwort amüsiert: Eijentlich janz jut, bloß mit de Sprache komm wa jar nich zurecht! Mir muss das Berlinern noch eine ganze Weile angehangen haben, auch in der Schule nannte mich die Musiklehrerin Frau L. noch lange die kleine Berlinerin!
Ganz schrecklich erschien uns Zugezogenen: In Jena sagten alle gelle. Dieses Wort hatte durchaus ein Äquivalent im Berlinerischen. Zur Vergewisserung fragte man dort wa, was wohl der Rest von nicht wahr oder was war. Das schien aber nicht dasselbe. Kam gelle nicht eher von gelten, es gilt? Also eigentlich: stimmt‘s? Oma und Mutti (die übrigens ihr sudetendeutsches nuwa beibehalten hatten) verhängten aus sprachästhetischen Gründen über uns alle ein Gelle-Verbot, das auch lange vorhielt. Aber später, als ich mit meinen eigenen Kindern sprach, schlich es sich ganz selbstverständlich ein, zuerst ironisch gebraucht, dann selbstverständlich und beinahe zärtlich. Ein verkürztes gelle, schnell und unbetont gesprochen: gä? Mit hochgenommener Stimme, so als suche man eine kurze Bestätigung, als vereinbare man mit seiner Benutzung Nähe und Zusammenklang. Spätestens mit ihm war Jena meine Stadt geworden.
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