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Frank Quilitzsch
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Thüringische Landeszeitung, 4.12.2024
Die Kämpfs kämpfen sich durch die Zeiten
Landolf Scherzer hebt den Lebensschatz einer Thüringer Familie
Von Frank Quilitzsch
Dietzhausen. Zwei Pappkartons voller Leben. Landolf Scherzer hat mir erzählt, dass er noch einen Schatz heben müsse. 1994 war er Marianne aus Benshausen begegnet, einer geborenen Kämpf, die die Geschichte ihrer Familie aufschreiben wollte. Er bot seine Hilfe an. Sie trafen sich und wechselten Briefe. Zehn Jahre später ist die Frau tot und Hans-Rüdiger, eines ihrer fünf Kinder, steht mit den Aufzeichnungen und Erinnerungsstücken vor Scherzers Tür. Die Mutter habe es nicht geschafft, vielleicht könne ja er, der Schriftsteller…
Der erfahrene Schreiber wusste, wenn er sich einmal in die Schicksale der »kleinen Leute« vertieft, bleibt keine Zeit mehr für Reportagen. Er reiste nach China, Griechenland, Kuba und auf die Krim. Mit 83 wollte er dann kein weiteres Buch mehr beginnen, doch aus der Ecke flüsterte es: Schreib’s endlich auf, Scherzer!
Marianne hätte heute viel Grund zur Freude, zumal sie in dem Buch »Die Kämpfs. Eine Thüringer Familiengeschichte oder Die große Kraft der kleinen Leute« häufig zu Wort kommt. Gleich am Anfang zitiert der Autor aus ihrem Tagebuch: »In unserer Kinderzeit, als die Züge noch langsam fuhren und die grüne natürliche Wand aus Büschen und Bäumen auch noch jung war und dünn und klein, sahen wir ein helles Kästchen mit einem dunklen Dach inmitten von Grün, und zu besonderen Anlässen von Willkommen und Abschied bewegte sich aus einem der Fenster ein weißer Punkt heftig auf und nieder, ein grüßend geschwungenes Taschentuch…«
Kann man sein Elternhaus anschaulicher beschreiben? Scherzer nimmt den Ton auf und verwebt die Biografien zu einer von 1900 bis ins Heute reichenden bewegenden Chronik. Kein leichtes Unterfangen, denn die Ehen sind kinderreich und die Verhältnisse verworren, besonders im Kaiserreich, während der Nazizeit und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kämpfs kämpfen sich durch. Da sind die verfeindeten Annas, Mariannes Großmütter, die »schwarze« (streng katholische) und die »rote« (sozialdemokratische). Mit ihren »Liebesgeschichten« als Dienstmägde beginnt der Reigen, in dem es den Büchsenmacher und den Soldaten, den Gewerbelehrer und die LPG-Vorsitzende gibt, doch die allermeisten Kämpfs waren Schneider und konnten noch Anzüge nach Maß nähen.
Ich lese und lese und lerne dabei auch eine erfrischend neue Seite des alten Scherzer kennen, den Geschichtenerzähler, der mit Wörtern jongliert und das Gesprochene regional einfärbt. Immer wieder fragt er sich und andere, was diese sprichwörtlich »kleinen Leute« eigentlich ausmacht. Der Rudolstädter Theaterintendant Mensching meint, die Kleinheit werde ihnen nur eingeredet, damit man sie leichter übersieht. Ihnen verdanke unsereiner sein bequemes Leben, weiß der Dachdecker Jasper. Und der Investigativ-Reporter Wallraff hält die Kleinen für die wahrhaft Großen.
Umschlaggestaltung: Jens-Fietje Dwars, quartus-Verlag, Bucha 2024.
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