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Dietmar Jacobsen
Erstdruck in: Palmbaum, Heft 2/2022. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Dietmar Jacobsen
Als »Illegaler« auf der Krim
Als Landolf Scherzer sich am 3. Februar 2019 in Richtung Krim aufmachte, konnte er nicht ahnen, dass fast auf den Tag genau drei Jahre später ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ausbrechen würde. Ein Krieg, in dem inzwischen auch die Halbinsel, die 2015 völkerrechtswidrig von Russland annektiert worden war, eine wichtige Rolle spielt. Was der damals 78-jährige Reisende aber schnell merkte: Im Unterschied zu seinen letzten Touren als »rasender Reporter«, die ihn nach China, Griechenland und Kuba geführt hatten, haftete diesem Trip von Anfang an etwas Illegales an.
Es begann bereits mit einem Umweg. Nicht vom Gebiet der Ukraine aus, wie es vernünftig gewesen wäre, erreichte Scherzer nämlich sein Ziel, sondern mit einem russischen Visum via Moskau. Nach ukrainischem Gesetz machte er sich damit des illegalen Grenzübertritts schuldig, ein Vergehen, das, wurde man dabei ertappt, ein mindestens zweijähriges Einreiseverbot in die Ukraine bedeuten konnte. Und auch das Berliner Auswärtige Amt wollte dem Autor nichts Beruhigendes mit auf den Weg geben: Als illegal Eingereister würde er sich vor Ort »ohne deutschen diplomatischen, medizinischen und rechtlichen Schutz« bewegen müssen.
Allein Bangemachen galt noch nie für Scherzer – und so bezog er seine Ausgangsbasis für die Erkundung des Lebens auf der Krim »bei Babuschka Gulnada und ihrer vierköpfigen Familie in Nowaja Derewnja«, einem kleinen Vorort der Stadt Saki im Westen der Halbinsel, eben von Russland aus. Lernte von Anfang an die Gastfreundschaft der Einheimischen, für die wenig zu essen als Beleidigung empfunden wird, kennen und die Bürokratie der Ämter fürchten, in denen die Zeit ein gemächlicheres Tempo anschlug als überall sonst. Und weil er nicht zuletzt in Sachen eines Freundes unterwegs war, der sein Lebensprojekt, über die Vergangenheit und Gegenwart der Krimtataren zu schreiben, aus persönlichen Gründen aufgeben musste, hatte er gleich zwei sich schnell füllende Schreibhefte dabei: eines für die eigenen Recherchen und eines mit Anmerkungen für den Freund.
Scherzer hat sein Buch »aus aktuellem Anlass […] den Ukrainern und Russen, die sich gegen jeden hasserfüllten Nationalismus und für ein friedliches Leben ihrer Völker einsetzen«, gewidmet. Das schert weder die einen noch die anderen über einen Kamm und hebt sich wohltuend von Tönen ab, die in letzter Zeit auch bei uns nicht selten zu vernehmen sind. Aber es gibt sie eben nicht: DIE Russen und DIE Ukrainer. Stattdessen gibt es Menschen, denen der Autor, wie man das bereits aus seinen anderen Büchern kennt, ohne Scheu auf Straßen und Plätzen begegnet. Solche, die schnell seine Freunde werden, solche, deren Vertrauen er erst erwerben muss, und – freilich nur selten – auch solche, die nicht vergessen können, was Deutsche ihren Vorfahren im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Und nicht wenige von denen, die mit dem Autor auf seinen Fahrten kreuz und quer über die Krim ins Gespräch kommen, berufen sich auf mehr als eine Identität. »Wir sind Usbeken und Russen und Ukrainer. Aber zuerst Tataren! Krimtataren! Muslime!«, hört er nicht nur von Gulnadas Schwiegersohn Reschit.
60 Prozent Russen, 25 Prozent Ukrainer und 12 Prozent Tataren leben auf der Krim. Das jüngste Leid der Letzteren, die, nachdem die Rote Armee Anfang Mai 1944 die Halbinsel zurückerobert hatte, unter dem Vorwand der kollektiven Kollaboration nach Zentralasien deportiert worden waren, von wo die dieses Exil Überlebenden erst zu Zeiten von Glasnost und Perestroika zurückkehren durften, solle er bei seiner Krimreise immer im Hinterkopf behalten, hatte ein befreundeter Filmemacher Scherzer mit auf den Weg gegeben. Vor Ort muss der neugierige Reisende dann freilich erleben, dass niemand gerne über eine Vergangenheit spricht, die in das Schicksal jeder heutigen krimtatarischen Familie auf tragische Weise eingegriffen hat. Erst von zwei Vertretern der Enkelgeneration erfährt er schließlich, was deren Eltern und Großeltern während der Stalinzeit von den Vertretern einer Weltanschauung, deren Prämissen – freilich nicht ihren totalitären Methoden – auch Landolf Scherzers Zustimmung einst galt, angetan wurde. Dass Scherzer auch heute noch einen »stark verblichenen,aber immer noch roten Rucksack« mit sich herumschleppt, ist ein starkes Bild für seine mit dem Wissen, was im letzten Jahrhundert unter dem Namen des Sozialismus wirklich geschah, einsetzende Desillusionierung.
Leben im Schatten der Stürme ist ein Buch über eine Weltgegend, die in unseren Tagen als Teil einer Krisenregion wahrgenommen wird. Dass man nicht auf den ersten Blick die Konflikte versteht, die hier oft in Zeiten zurückreichen, die heute Lebende nur noch aus den Erzählungen ihrer Vorfahren und aus Büchern kennen, hat Landolf Scherzer gewusst, als er sich aufmachte. Und was man ihm riet vor Antritt der Reise – »Du sollst […] nicht versuchen, diese Kompliziertheit in Deinem Text zu vereinfachen. Du darfst nicht entscheiden: Das ist gerecht! Das ist ungerecht! Das ist gut, oder das ist schlecht für die Zukunft der Krim! Schau Dir immer nur die Menschen an. Höre aufmerksam zu, was sie sagen. Und schreibe lediglich das auf.« – entspricht ohnehin der Art und Weise, die er seit Jahrzehnten in seinen Büchern praktiziert.
Genau deshalb ist auch Landolf Scherzers Krim-Reportage wie alle ihre Vorgänger so wahrhaftig, lebendig und lesenswert geworden. Das Buch stellt Kleines neben Großes, Historisches neben Zeitgenössisches, Anekdoten neben Sprichwörter. Es erwähnt Gorbatschow und Putin, den tatarischen Fliegerhelden Amet-Chan Sultan und den Absturz des damals 21-jährigen deutschen Fliegers und späteren Künstlers Joseph Beuys mit einem Jagdflugzeug über der nördlichen Steppe, wo er von Krimtataren gesundgepflegt wurde. Es erzählt von dem legendären Pionier-Ferienlager Artek inmitten einer traumhaft schönen Landschaft, die mit dem Paradies zu vergleichen nicht zu hoch greift. Und immer wieder bemüht es sich, einem Satz gerecht zu werden, den der ehrenamtliche Direktor des Tschernobyl-Museums in Jewpatorija Landolf Scherzer bei seinem Besuch mit auf den Weg gab: »Die Erinnerung ist die Wurzel unseres Lebens.«
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