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Dietmar Ebert
Erstdruck: Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Dietmar Ebert
Im Frühjahr ist bei »edition Azur« Nancy Hüngers neuer Gedichtband erschienen. Er trägt den Titel Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett.
Es ist der dritte Lyrik-Band, und um es gleich vorwegzunehmen: Es ist ihr bislang bester Band. Nancy Hüngers Sprache ist gereift, und noch nie hat sie innerhalb eines Bandes so unterschiedliche poetische Möglichkeiten, Welt ins Gedicht zu bannen, vereinigt.
Nancy Hünger ist ihren eigenen Gedichten gegenüber sehr kritisch. Auch ihre früheren Texte mussten strengen Auswahlkriterien stand halten. An die Gedichte ihres neuen Bandes stellt sie jedoch einen noch höheren Anspruch. Hier muss jedes Wort sitzen, jeder Ton stimmen, ehe sie in die raue Wirklichkeit entlassen werden. Nichts ist leicht fertig. Nancy Hünger gibt ihre Gedichte erst frei, wenn sie in der Welt der Literatur bestehen können.
Die acht »Abteilungen« des Bandes tragen die Titel: Liederliche Lieben, Postmusikalisch und schlichtweg naiv, Lebe wohl, gute Reise, volvere, Familiarium, Rupfen in fremden Gärten, Ach diese herrlichen Schwendtage, diese und Aus der Werkstatt betretenen Schweigens.
Jedem dieser acht Abschnitte sind Zitate vorangestellt, die einen Sprach‑, Denk- und Kunstraum aufspannen, innerhalb dessen die Gedichte atmen und sich bewegen können. Fragile Räume sind das, die an keinen Ort gebunden sind. Im ersten Abschnitt Liederliche Lieben sind Gedichte versammelt, in denen lebender und von uns gegangener Dichter gedacht wird. Federleicht kommen diese Gedichte daher, selten war Poesie so spielerisch. Doch bereits im nächsten Moment stellt sich eine Schwere ein, dass dem Leser der Atem stockt. Die Gedichte fordern Aufmerksamkeit und bekommen sie durch mehrfache Lektüre.
In der zweiten Rubrik finden wir verhaltene Gedichte, die allem nachlauschen, was nicht mehr Musik im traditionellen oder modernen Sinne ist: Geräuschkombinationen und Klänge, kurz alles, was zu hören und gerade noch dem Wort zugänglich ist.
Das sind ernste Gedichte, in denen immer wieder Ironie, manchmal sogar Wortwitz aufblitzt. Und schließlich weiß das lyrische Ich, und Nancy Hünger weiß es erst recht, wenn man das »Köfferchen« und Abschied nimmt von einem Menschen oder einem vertrauten Ort, dann braucht es Musik wie sonst nirgends auf der Welt.
Lebe wohl, gute Reise, so sind acht Gedichte überschrieben, die eine Reise in den Süden spiegeln. Ganz natürlich wachsen Nancy Hünger die Themen und Metaphern zu. Kein Land, wo die Zitronen blühn, kann mehr entdeckt werden. Verwüstete und geschundene Landschaften, verschmutzte Meere, Zivilisationsmüll und Einheimische, die sich mit all dem arrangieren müssen, finden Eingang in die Gedichte. Offen sind die Gedichte für immer neue Entdeckungen. Zugleich werden Rhythmus und Form strenger. Die dreizeilige Strophe dominiert und scheint wie geschaffen für diese Art von Lyrik.
Zehn Gedichte sind unter dem mit mehr als zwanzig Bedeutungen aufgeladenen lateinischen Verb volvere versammelt. Vielleicht sind es die hermetischsten lyrischen Gebilde des Bandes. Sie sind von großer Schönheit und spiegeln etwas von der Schutzlosigkeit, der Dünnhäutigkeit und der Unmöglichkeit, aus »blassen Fasern« dauerhaft gemeinsame Räume zu wirken.
Neun Gedichte sind es, die unter dem Titel Familiarium rubriziert sind. Nancy Hünger findet hier zu einer starken, intensiven Sprache, die gleichermaßen Kopf und Seele anspricht. Sie hebt »nicht Gewusstes« aus dem Unbewussten und findet zum Beispiel in den Gedichten Für Curt (S. 62) und Meine fünf ungeborenen Töchter (S. 66f.) zu einer poetischen Tiefe, die den Leser im tiefsten Innern trifft und Gänsehaut erzeugt.
Sechs Gedichte, in denen die Tierwelt poetisch erkundet wird, sind mit dem Titel Rupfen in fremden Gärten überschrieben. Es ist frappierend, wie es Nancy Hünger gelingt, zu einer ganz knappen, lyrisch pointierten Form zu finden.
Ganz anders gewandet sind zehn lyrische Texte, die diese herrlichen Schwendtage beschreiben und reflektieren. Vielleicht ist es aber auch nur ein einziger Text, den zu schreiben die Dichterin zehnmal ansetzt, misstraut sie doch zutiefst allen literarischen Gebilden die einen Anfang und ein Ende haben. Denn Nancy Hünger ist immer »mittendrin«, wie ihre Versuche aus der Werkstatt des betretenen Schweigens zeigen. Sieben Gedichte umkreisen die Unmöglichkeit, benennen und schreiben zu können. Sieben Gedichte, von denen jedes einer anderen Poetik folgt. Mit ihnen findet der Gedichtband ein würdiges, aber kein hermetisches Ende. Er bleibt offen für neue Gedichte und lyrische Prosatexte. Und wenn die fünf ungeboren Töchter der Dichterin wieder einmal fragen werden, was sie denn im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts getan habe, so sei ihnen gesagt: Sie war auf der Suche nach einer Sprache und Dichtung, die es zuvor nicht gegeben hat.
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