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Rainer Hohberg
Thüringer Literaturrat e.V.
Besucher, die noch immer zahlreich ins Residenzdorf Hummelshain pilgern, fühlen sich beim Anblick des Neuern Jagdschlosses ein wenig an Neuschwanstein erinnert oder an Harry Potters Zauberinternat Hogwarts. Allerdings haben Jahre des Verfalls deutliche Spuren hinterlassen und das Frühwerk des Lieblingsarchitekten Kaiser Wilhelm II. inzwischen zu einem Anziehungspunkt für Lost-Places-Fotografen gemacht. Die Bewohner des Dorfes, dessen Mittelpunkt es ein Jahrhundert lang war, sprechen kaum noch über ihr Schloss; die Hilflosigkeit hat sie mundtot gemacht. Aber sie sehen es jeden Tag, und einige sogar in der Nacht, in Träumen, von denen die Fotografen nichts ahnen.
In dicke Decken gemummelt liegt Frau Bornschein in ihrem Pflegebett, das Fenster zum Park weit geöffnet. Sie braucht viel Sauerstoff und hat viel Zeit zum Träumen und wünscht sich so sehr, einmal von Hubert zu träumen, ein einziges Mal nur. Wie er sie damals hinter dem Gewächshaus geküsst hat, ganz sanft und ohne sie anzuschauen. Aber stattdessen träumt sie immer nur, wie sie Schnee schaufeln muss, gleich nach dem Krieg, meterhohen Schnee von der Schlossterrasse. Oder wie sie auf dem bronzenen Hirsch um das Schloss reitet, über die eingestürzten Krankenbaracken, und plötzlich merkt, dass sie nackt ist und schrecklich friert. Oder wie sie mit den letzten Zöglingen die Putzkammer ausräumt, Scheuerlappen, unendliche Mengen unbenutzter Schauerlappen, in denen sie fast ersticken. Diesmal fühlt sich der Hirsch struppig warm an, als er nach dem Ritt wieder im Laubversteck liegt. Frau Bornschein schmiegt sich fest an ihn, während ein paar Meter vor ihnen eine Gestalt aus einem dunklen Wagen steigt. Ein blütenweiser Hemdkragen mit Krawatte schimmert im Mondlicht; irgendwo hat sie denn Mann schon gesehen, doch Hubert ist es gewiss nicht. Er packt das Fallrohr der Dachrinne und – was ist das? – zieht sich daran behänd wie ein Fassadenkletterer empor. Nun schwingt sich auf den Sims, balanciert hoch oben über der Fensterfront in Richtung Turm und scheint irgendwas in seinen Hosentaschen zu suchen. Deren Inneres hat er nach außen gekehrt, oder sind es Flügel, weiße Flügel, die er immer mehr in die Länge zieht? Er lässt sie schwingen, den Blick zum Mond gerichtet, flügelt immer wilder, versucht sich in die Luft zu erheben. Aber umsonst. Ein Käuzchen schreit, der unglückliche Flieger schluchzt herzzerreißend vom Sims herab, heult wie ein kleines Kind, sodass nun auch Frau Bornschein weinen muss und auch der Hirsch, der nun wieder auf seinen Sockel steht. Alles ist warm und nass, und Frau Bornschein sehr unglücklich, und sie denkt an Hubert und an Schwester Martina, die ihr nun wieder mit den Windeln kommen wird.
Keine tausend Meter weitern scheppern aus dem Autorradio Nachrichten, und der scheckige Bart von Udo Tetzlakowski sprießt in einem Augenblick um mehrere Zentimeter. Trotz seines steifen Beins holt er jeden Tag Holz aus dem Wald. Er stopft Kofferraum und Rücksitze seiner Rostkarre voll, auf dem Beifahrersitz schnallt er es mit dem Sicherheitsgurt an. Weil er nachts kaum schlafen kann, legt er kurz vor dem Dorf am Kuckuckswäldchen und mit Blick auf den Schlossturm eine Rast ein. Der Sprecher dröhnt gerade vom Islamischen Staat, der im Nordirak mit Bulldozern erneut eine antike Stätte dem Erdboden gleich gemacht habe, von weltweiten Protesten gegen die Zerstörung unwiederbringlicher Kulturgüter durch die Terrormiliz, was Tetzlakowski mit einem vieldeutigen »Ha!« kommentiert, während er tief den Duft der frisch geschlagenen Birken inhaliert. Die stapeln sich rundum in zärtlichem Weiß. Die Fahnen dagegen sind schwarz wie der Waldgrund gegenüber, sodass er sie nicht gleich wahrnimmt. Schwarze Fahnen mit weißen Arabesken, zehn, fünfzehn, hundert? Auf schicken Pickups kommen sie gefahren, quer übers Rapsfeld. Als Tetzlakowski begreift, wohin sie rollen, knurrt er nochmals »Ha!«, gibt Vollgas, dass ein paar Birkenbrocken rücklings durch die Luft kollern, rast den schwarzen Fahnen entgegen. Auf freiem Felde, zwischen Scherfs Scheune und dem neuen Seniorenheim, kann er den Angriff der IS- Terrormilizionäre für einen Moment stoppen. Er schaut in die Mündungen schwerer Maschinengewehre. Oje, hoffentlich hat er sich da nicht zu viel vorgenommen! Drei Bulldozer sind auch dabei, kistenweise Sprengstoff auf den Hängern. Er schaut in die schwarzen Augen des schwarzbärtigen Kalifen. »Ha, ihr könnt umkehren!«, hört Tetzlakowski seine eigene Stimme, durch mächtigen Nachhall verstärkt. »Schau doch selbst! Wo es eine Regierung und Schlossbesitzer wie hier gibt, braucht es keine Dschihadisten.« Und Tetzlakowski spürt, wie sein Bart bei jedem Wort weiter wächst, wie der Bart des Propheten im Wind weht und sein Gegenüber zu beeindrucken scheint. Einige der Finsterlinge fangen an, auf ihren Pickups die Gebetsteppiche auszurollen, doch der Kalif winkt ab und lässt sich einen Feldstecher reichen. Obwohl hinter hohen Pappeln und Silbertannen verborgen, die sein Vater vor mehr als vierzig Jahren gepflanzt hat, ist die schrundige Dachlandschaft des Schlosses gut sichtbar. Aber wird das den Kalifen überzeugen? Während dieser endlos an der Scharfeinstellung des Fernglases fingert, fühlt Tetzlakowski seine Knie weich werden und sich allmählich in eine watteweiche Ohnmacht sinken. Wie aus weiter Ferne hört er endlich des Kalifen Stimme, die ihn irgendwie an die seines Neffen aus Recklingshausen-Stuckenbusch erinnert: »Ok Alter, ich seh schon – dat schafft ihr völlig von alleine.« Und mit einem laxen Handzeichen gibt er den Rückzugsbefehl. Wenig später hört Udo Tetzlakowski zum ersten Mal in seinem Leben am Kuckuckswäldchen einen echten Kuckuck rufen und will kaum glauben, was er da wieder so toll hinbekommen hat. Aber jeder kann es ja sehen: die schwarzen Fahnen sind vom Feld verschwunden, die Bulldozer, die Sprengstoffhänger, und die bei seinem Angriff auf die Terrormiliz verlorenen gegangen Birkenbrocken stapeln sich ordentlich hinter ihm im Kofferraum.
Dr. Krummbiegel, der Vorsitzende des Heimatvereins, ist ein romantischer Realist und hat dementsprechend ganz andere Schlossträume. Meist während seines mittäglichen Gesundheitsschlafes zwischen 13.30 und 14 Uhr. Manchmal geschieht darin, was in der Wirklichkeit am wenigsten geschieht: es geschieht etwas am Schloss. Oder ist das riesige neue Bauschild nicht ein untrüglicher Beweis? Güldene Sterne im Kreis auf blauem Grund direkt am Parkeingang. K. muss die 12-Meter-Leiter aus dem Feuerwehrstützpunkt herbeischleppen, um die übermanngroßen taumelnden Buchstaben entziffern zu können: kofinanziert durch die EU-Kommission… Tourismus international… Freudig erregt klettert er höher. Vor Jahren sollte das Schloss ein Forschungsinstitut mit Hubschrauberlandeplatz werden, doch diesmal scheint es um etwas ganz großes zu gehen. Pilotprojekt Zukunft Thüringen… kontrollierte Ruinisierung als kostengünstigste Form der eventorientierten Pflege des Kulturerbes… Alles ist auch auf Bildern großartig dargestellt: Kolosseum und Akropolis…. UNESCO-Weltkulturerbe Hummelshain…. Obwohl er sie nicht versteht, durchglüht Dr. Krummbiegel diese Idee so sehr, dass er vor Erregung beinahe von der Leiter stützt. Gott sei Dank nur beinahe! So kann er weiterklettern, summt nun »Akropolis adieu«, bis er das Ende der Leiter und des blau-goldenen Bauschildes erreicht und das Schloss selbst im Blickfeld hat. Und siehe, da ist ja alles schon voll im Gang! Während K. noch immer begeistert die Akropolis besummt, kippt einer der bizarren Ecktürmchen vom Hauptturm im Zeitlupentempo ab, durchschlägt krachend – von einer Lasershow prächtig untermalt – das Dach des Herzogin-Agnes-Flügels: Und völlig lautlos schiebt sich aus dem Loch zartes Maigrün empor, der Wipfel einer deutschen Eiche, des Lieblingsbaums von Herzog Ernst, hübsch mit EU-Fähnenchen dekoriert – rundum brandet begeisterter Beifall auf. K. reibt sich die Augen; jetzt erst nimmt er wahr, dass er nicht der einzige Zuschauer ist, entdeckt die vorzüglich in die denkmalgeschützte Parklandschaft integrierten Zuschauertribünen, das Besucherzentrum mit Cafe´-Terrasse, den riesigen Busparkplatz am Dorfrand, die von da zum Schloss führende Schwebebahn… K. kann es kaum fassen, spürt den unwiderstehlichen Drang, alles genau zu zählen, die bunten Busse, die stürzenden Schornsteinköpfe und die Menschenmassen auf den Tribünen, aber er verheddert sich ständig zwischen ungeraden und geraden Zahlen, die in langen Ketten das Buchstabengebilde k o n t r o l l i e r t e R u i n i s i e r u n g umschlingen. »Pilotprojekt Zukunft Thüringen…«, murmelt Dr. K. verzückt, »in Hummelshain eine der schönsten Ruinen Europas life erleben…«. Schweißgebadet, doch mit dem sicheren Gefühl, dass hier endlich etwas passiert, dreht er sich im Erwachen auf die andere Seite.
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