Anke Engelmann – »Der Zaun«

Person

Anke Engelmann

Orte

Erfurt

Weimar

Thema

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Autor

Anke Engelmann

Die Rechte am Text liegen bei der Autorin. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. / Gesamtproduktion: Thüringer Literaturrat.

 

Ein Lada, ja. Und hier, der Zot­tel mit der Latz­hose, das bin ich. Das war ziem­lich genau zur Wende und eine Stunde oder so, nach­dem Mar­got das Foto geknipst hatte, haben wir das Auto zu Schrott gefah­ren. Da hab ich auch mei­nen ers­ten Com­pu­ter gese­hen, als wir den Zaun gebaut haben, bei die­sem Dings, die­sem Opern­sän­ger, ich komm jetzt nicht auf den Namen. Der Lada gehörte dem sei­ner Frau. Wie die Sache aus­ging? Keine Ahnung. Aber wie sie anfing, das weiß ich noch genau.

Die Villa war eine Wucht. Allein der Kon­zert­flü­gel bewohnte ein gan­zes Zim­mer. Das Ding schim­merte blitz­blank, kein Stäub­chen traute sich da drauf. Und eine Satel­li­ten­schüs­sel hat­ten die, für den West-Emp­fang. Dres­den, Tal der Ahnungs­lo­sen und so. Fern­se­hen geguckt haben wir trotz­dem nie, weil, die Schüs­sel stellte sich selbst mit einem Motor ein. Das rum­pelte der­ma­ßen, das ganze Haus hat gewa­ckelt. Des­halb haben wir nichts mit­be­kom­men, als es los­ging. Ach, und ein Com­pu­ter stand da. Ein Com­pu­ter! 1989, als die meis­ten das Wort Com­pu­ter noch nicht ein­mal kannten!

Doch das war nichts, rei­ne­weg nichts, gegen, und jetzt kommt’s: Eine ganze Stadt aus Lego-Stei­nen stand in einem der Jungszim­mer. Ach was, Stadt. Eine Metro­pole! Bestimmt zwei Meter im Qua­drat! Ein rich­ti­ges Kunst­werk, aus roter, blauer, gel­ber und wei­ßer Plaste. Mit Häu­sern! Einem Kirch­turm! Win­zi­gen Autos in den Stra­ßen, Brü­cken, die die Häu­ser mit­ein­an­der ver­ban­den, sogar Wol­ken­krat­zern. Ja echt!

Sowas hat­ten wir noch nicht erlebt. Aber wir dach­ten: Ein berühm­ter Opern­sän­ger und Pro­fes­sor noch dazu. In der gan­zen Welt war er unter­wegs, da sollte er zu Hause den Luxus nicht ver­mis­sen, damit er ebend brav wie­der kam. Der war ja ein Aus­hän­ge­schild der DDR. Stän­dig sah man ihn im Fern­se­hen, er schmet­terte Ope­ret­ten­a­rien im Kes­sel Bun­tes oder Volks­lie­der mit irgend­wel­chen Kin­der­chö­ren. Sogar wir kann­ten sein Gesicht, so berühmt war der.

Ihn selbst haben wir nur ein­mal getrof­fen. Gleich nach unse­rer Ankunft, wir stan­den mit unse­ren Kla­mot­ten etwas bedep­pert im Flur, kam er aus sei­nem Arbeits­zim­mer geschnippt. Er wirkte klei­ner, als ich ihn mir vor­ge­stellt hatte, aber kom­pakt wie ein ver­schnür­tes Bün­del. »Mar­got ja? Andy? Präch­tige Bur­schen!«, er griff sich Mar­gots Hand, schüt­telte sie und wollte nicht mehr auf­hö­ren. »Ein unge­wöhn­li­cher Name«, flö­tete er und Mar­got begann sofort, die Geschichte mit dem Cas­tel­lani zu erzäh­len und wie seine Haare tief­vio­lett gewe­sen waren nach der Fär­be­ak­tion mit dem Fuß­pilz-Zeug und er aus­ge­se­hen habe wie der lilane Dra­che und des­halb der Name … Dem seine Haare waren damals stop­pel­kurz und blond wie Küken­flaum, nor­ma­ler­weise. Ich trug Zopf und so ’ne John-Len­non-Brille. Denkt man nicht, dass ich mal lange Haare hatte, oder? Jeden­falls musste ich Mar­got in die Seite sto­ßen, aber der Pro­fes­sor grinste und träl­lerte opern­mä­ßig »Mar­got, Mar­got, du ent­schwan­dest …«, was im Nach­hin­ein irgend­wie pro­phe­tisch klingt.

Wir hat­ten dann nur mit der Frau vom Pro­fes­sor zu tun, mit der haben wir uns immer sehr nett am Früh­stücks­tisch unter­hal­ten. Die war frü­her mal Tän­ze­rin gewe­sen. Eine gepflegte Erschei­nung, nicht arro­gant oder so. Alle waren sehr ange­nehm. Und nie zu Hause. Außer Frau Pro­fes­sor zum Früh­stück haben wir da nie jeman­den gese­hen. Die Söhne stu­dier­ten außer­halb, glaub ich. Gepennt haben wir im Hob­by­kel­ler, Fuß­bo­den­hei­zung, das hat uns schwer beein­druckt. Wir durf­ten über­all ran und alles nut­zen. Mar­got hat natür­lich stän­dig am Com­pu­ter gezockt.

Wir waren unter­wegs wie Mac Guy­ver im Dop­pel­pack. Mar­got und Andy, die Super­spe­zia­lis­ten. Andy, das bin ich. Wir über­nah­men alles, was anfiel und wofür Leute Geld locker mach­ten. Schwarz natür­lich: reno­vier­ten Fach­werk­häu­ser, fäll­ten Bäume in engen Hin­ter­hö­fen oder repa­rier­ten die Dach­rin­nen von Kir­chen, nur mit Klet­ter­seil und Kara­bi­ner gesi­chert – wag­hal­sige Aktio­nen oft.

Vor dem Pro­fes­sor hat­ten wir einen Hei­den­re­spekt und den Auf­trag woll­ten wir beson­ders gut erle­di­gen. Kei­nes­falls durfte das so ein Desas­ter wer­den wie mit unse­rer Rau­fa­ser­ta­pete. Ich sag mal so: Eiweiß und Hafer­flo­cken eig­nen sich nur bedingt zur Über­brü­ckung von Ver­sor­gungs­eng­päs­sen im Bereich der Struk­tur­ta­pe­ten. Ist natür­lich an der Wand ver­schim­melt, das Zeug. War das ein Theater!

Trotz­dem, eine gute Zeit. Wenn man so will, haben wir uns dem Sys­tem ver­wei­gert. Wir sind nicht demons­trie­ren gegan­gen, jeden­falls nicht oft. Wir waren Aus­stei­ger, keine Ver­folg­ten, eher Nischen­hop­ser. Wenn man cle­ver war und keine Ansprü­che stellte, kam man im Osten gut durch damit.

Die Lot­to­ge­sell­schaft war unser Alibi, da waren wir ange­stellt. Ver­dient haben wir fast nichts, aber ohne Job konnte man urs­ten Ärger bekom­men, man stand quasi mit einem Bein im Knast. Assi-Para­graph. Des­halb haben wir jeden Mon­tag in Leip­zig brav Lot­to­scheine aus­ge­zählt und den Rest der Zeit unser eige­nes Ding gemacht. Pro­jekte, ohne Schicht und Bri­ga­de­pfusch, ohne Meis­ter vor der Nase oder Par­tei­se­kre­tär. Und wir waren gut – meis­tens jedenfalls.

In Losch­witz lief am Anfang alles wie geschmiert. Ein guter Zaun sollte das wer­den. Ein Kunst­werk für einen Künst­ler, geschraubt – nicht gena­gelt. Tag für Tag schul­ter­ten wir das Werk­zeug und gin­gen die paar Schritte zur Arbeit, wo Mar­got erst­mal eine Karo rauchte oder zwei, bevor wir los­leg­ten. Mar­got mau­erte am Ein­gangs­tor zwei Pfos­ten aus rotem Klin­ker­stein, die Fugen genau auf einer Linie aus­ge­rich­tet. Und dann die Zier­fu­gen: Vor­sich­tig mit der Kelle den Mör­tel zwi­schen die Steine ein­ge­führt, so dass die Klin­ker keine Fle­cken beka­men. Ich war der Holz­wurm und küm­merte mich um das Mate­rial, das der Pro­fes­sor orga­ni­siert hatte. Das bedeu­tete, wir hat­ten es von einer Groß­bau­stelle geholt und einen Kas­ten Bier, eine Fla­sche Whisky und einen ver­schlos­se­nen Brief­um­schlag dagelassen.

Orga­ni­sie­ren. So hieß das. Oder besor­gen. Es gab ja vie­les nicht. Zwar, mit wenig Geld konnte man gut leben, wenn man Prio­ri­tä­ten setzte und auf Luxus ver­zich­tete. Wir kamen gut ohne klar. Schwarz­geld, Bück­ware, Dienst­leis­tun­gen – wir ver­miss­ten nichts. Wenn wir was brauch­ten, orga­ni­sier­ten wir.

Doch dann packte mich das Lego­fie­ber. Lego! Sowas hatte es bei uns zu Hause nicht gege­ben. Lego, damit spiel­ten nur Kin­der mit West­ver­wandt­schaft. Meine Mut­ter hatte keine, nur Kin­der, die hatte sie genug. Fünf Stück waren wir, gespielt haben wir am Fluss oder im Neu­bau­ge­biet, die Bau­stelle war unser Aben­teu­er­spiel­platz. Aber Lego? Nie!

Ich also, in die Knie erst­mal und mit den Fin­gern die Stra­ßen­schluch­ten ent­lang. Ganz lang­sam. In die Häu­ser hab ich gel­unst, hier ein Dach abge­ho­ben und dort eine Tür geöff­net. Ganz vor­sich­tig. Das war wie Weih­nach­ten. Nein bes­ser. Wie Weih­nach­ten im Fernsehen.

Wen wundert’s, dass ein gel­ber Stein in mei­ner Hand kle­ben blieb. Die gel­ben sind beson­ders hübsch. Der steckte seine Nop­pen, wie von selbst, in einen wei­ßen, wozu sich wie­derum ein pas­sen­der Stein in gelb fand. Plötz­lich, ich weiß nicht wie, hatte ich einen win­zi­gen Turm in der Hand. In einem ent­zü­cken­den Schach­brett­mus­ter. Ich wollte ihn an die Kir­che ste­cken, aber da hätte ich alles aus­ein­an­der­neh­men müs­sen. Na, da hab ich dem Turm ein eige­nes Haus errich­tet. Und in die­sem Augen­blick kam mir, nein riss mich, die Idee für ein gro­ßes Pro­jekt: eine Ritterburg!

Den gan­zen nächs­ten Tag klim­per­ten die bun­ten Stein­chen in mei­nem Kopf herum. Völ­lig beses­sen war ich. Nach der Arbeit am Zaun hab ich mich ins Lego­zim­mer ver­drückt, ver­schwitzt und dre­ckig, wie ich war. Auf mich war­tete die Rit­ter­burg. Mein Pro­jekt. Jeden Abend. Die Tür ließ ich immer offen, falls doch mal jemand kom­men sollte. Obwohl, ich hatte nichts zu ver­ber­gen. Was auch.

Gebaut habe ich im Halb­dun­kel. Ohne Licht. Ich liebte das Kla­cken der Steine, wenn ich in dem Hau­fen wühlte und wie sich das Plas­te­zeug anfühlte in mei­ner Hand. Ein guter Hand­wer­ker kann mit den Hän­den sehen. Lange Abende saß ich, bis ich nicht mehr konnte, weil mir der Nacken weh tat und die Augen zufie­len. Wenn ich ins Bett ging, im Kel­ler, wo Mar­got auf der ande­ren Matratze schnarchte, war ich glücklich.

Doch dann gin­gen die Steine in der Kiste zur Neige.

Auf­hö­ren kam nicht in Frage.

Ich musste mir was ein­fal­len las­sen. Ich über­legte lange, doch so sehr ich die Sache drehte und wen­dete, es blieb nur eins: die Lego­stadt. Und so baute ich vor­sich­tig und nach und nach an eini­gen Häu­sern eine, viel­leicht auch zwei Lagen Steine ab. Sagen wir fünf. Mit Augen­maß. Ein Haus konnte ich ent­fer­nen, das fiel nicht groß auf, es brachte Nach­schub für lange Zeit. Um die freie Stelle zu ver­ber­gen, muss­ten die ande­ren Gebäude aus­ein­an­der rut­schen, jedes um einige Nop­pen auf der Grund­platte. Die Zie­gel für das Dach des Palas besorgte ich von einem drei­stö­cki­gen Wohn­haus, das ich zur Garage umfunk­tio­niert und mit einem prak­ti­schen Flach­dach aus­ge­stat­tet hatte. Über­flüs­si­gen Zier­rat ent­fernte ich, redu­zierte die Höhe der Wol­ken­krat­zer, lang­sam, vor­sich­tig. Jeden Abend ein biss­chen mehr. Mut zur Lücke.

Und der Zaun? Unse­ren Auf­trag nah­men wir wie immer sehr ernst. Ein guter Zaun würde das wer­den, aus wet­ter­fes­tem Lär­chen­holz, die Pfos­ten ein­be­to­niert und alles ordent­lich ver­schraubt – nicht gena­gelt. An der Vor­der- und Rück­seite des Grund­stü­ckes, die jeweils zu einer Straße wie­sen, musste die alte, knie­hohe Mauer mit­samt den Pfos­ten aus­ge­bes­sert und schmie­de­ei­serne Git­ter dar­auf befes­tigt wer­den – vom Pro­fes­sor bereits orga­ni­siert. Höl­zerne Zaun­fel­der soll­ten hang­auf­wärts das Grund­stück rechts und links von den Nach­barn abgren­zen. Wir muss­ten ver­rot­te­tes Holz ent­fer­nen, die Pfos­ten über­prü­fen, Lat­ten sägen, zusam­men­fü­gen und anbringen.

Mar­got mau­erte, und ich wühlte mich durch Holun­der­bü­sche und hackte Löcher in den stein­har­ten Boden. Dabei hatte ich einen guten Blick auf die gegen­über­lie­gende Seite des Tales, wo eben­falls ein berühm­ter Pro­fes­sor mit sei­ner Fami­lie wohnte. Wenn ich mich auf­rich­tete und hin­un­ter­blickte, fie­len mir die Stasi-Män­ner auf, die auf der Straße her­um­lun­ger­ten und die aus­sa­hen wie aus einem schlech­ten Agen­ten-Film. Echt, tota­les Kli­schee: Her­ren­hand­ta­schen am Hand­ge­lenk. Helle Män­tel. Unbe­tei­ligte Bli­cke und hin und wie­der ein ver­stoh­le­nes Wis­pern in den auf­ge­klapp­ten Man­tel­kra­gen. Klar haben wir uns gefragt, was die hier woll­ten. »Staats­be­such«, sagte Mar­got. »Hon­ecker kommt«, ver­mu­tete ich. Damit war diese Frage für uns erledigt.

Mit kei­nem Fit­zel­chen haben wir geahnt, was sich der­weil am Bahn­hof abspielte. Dass man die Züge mit den Men­schen durch Dres­den schleuste, die in Prag abge­hauen waren. Dass fast ein Bür­ger­krieg aus­ge­bro­chen war, als Tau­sende ver­sucht hat­ten, auf die Wag­gons zu sprin­gen. Und dass unser Freund Berti schon in Salz­git­ter im Auf­fang­la­ger saß.

Wir ahn­ten, aber wuss­ten nicht, dass die Mauer mehr als brö­ckelte, als wir an dem Zaun wer­kel­ten. Wie soll­ten wir! Den Fern­se­her igno­rier­ten wir, die Satel­li­ten­schüs­sel brummte zu auf­dring­lich. Außer­dem, wir hat­ten unsere eigene Rou­tine. Tags­über bau­ten wir, abends hat­ten wir zu tun. Mar­got am Com­pu­ter, ich im Legozimmer.

»Was machst du eigent­lich, wenn der Sohn nach Hause kommt?«, fragte Mar­got eines Abends.

»Wieso?« Fiel doch kaum auf, dass ich in der Stadt gewil­dert hatte. Und wenn doch: Meine Rit­ter­burg würde alles wie­der raus­rei­ßen. Trotz­dem ging ich ins Lego-Zim­mer und schal­tete zum ers­ten Mal das Licht an. »Ach du Scheiße«, flüs­terte Mar­got hin­ter mir.

Fiasko. Als wäre ein Ter­mi­ten­heer über die Lego­stadt her­ge­fal­len. Kraft­los und aus­ge­höhlt lag sie, die Stra­ßen viel zu breit, die Häu­ser nied­rige Bara­cken. Trüm­mer über­all. Was im Halb­dun­kel rie­sig aus­ge­se­hen hatte, mit lan­gen Schat­ten, geheim­nis­voll, wirkte im hel­len Licht wie gewollt und nicht gekonnt. Möch­te­gern-Metro­pole. Als hätte sie nie geblüht. Unwi­der­ruf­lich. Kaputt.

Und, schlim­mer noch: Arm­se­lig wirkte meine Rit­ter­burg. Kin­disch mit ihren Türm­chen und Zinn­chen und dem gebas­tel­ten Papier­fähn­chen auf dem Palas. Eine Rit­ter­burg? Das? Nie nich!

Mehr sag ich dazu jetzt nicht. Damals habe ich das Licht aus­ge­macht, die Tür geschlos­sen und mich zu Mar­got an den Com­pu­ter gesetzt. Der blickte nur kurz hoch. Nie wie­der bin ich in das Lego-Zim­mer gegan­gen. Com­pu­ter­spiele waren auch in Ordnung.

Und jetzt kommt das Ding mit dem Auto. Mann­mann. Die Frau vom Pro­fes­sor hatte uns erzählt, was über­haupt los war im Land und da muss­ten wir natür­lich unbe­dingt nach Leip­zig. Sie hat uns sogar ihren Lada geborgt. Ich sag doch, die waren total nett und groß­zü­gig. Wir haben was unter­zeich­net, dass wir ihr Genex-Schmuck­stück unver­sehrt zurück­brin­gen wür­den. Und das hat­ten wir auch vor, selbst­ver­ständ­lich. Klar. Warum nicht?

Nur war da die­ser Idiot vor uns an der Auto­bahn­auf­fahrt. So’n Trabbi. Him­mel­blau! Wir: geguckt. Da kam nichts, also Gang rein und los, RUNKS!, es tat einen rie­sen Schlag. Split­tern und Knir­schen, das ging bis unter die Kopf­haut, mir jeden­falls. Legt der Kerl doch genau in dem Augen­blick eine Voll­brem­sung hin! Dann klet­tert der aus sei­ner Pappe, läuft um sein Auto, an dem war nix, kein Krat­zer! Hebt die Faust, so teddy-thäl­mann­mä­ßig, steigt wie­der ein, schiebt einen Stin­ke­fin­ger aus dem Fens­ter und knat­tert davon. Wir waren völ­lig per­plex. Mist verdammter!

Aber was soll­ten wir machen! Wir pul­ten die kaput­ten Vor­der­lich­ter raus, ruckel­ten die Stoß­stange zurecht, ban­den die locke­ren Teile mit Bind­fa­den fest und über­leg­ten. »Wir fahr’n erst­mal nach Hause«, meinte Mar­got. »Da fällt uns bestimmt was ein.«

Tja. Das war die Geschichte. Mehr weiß ich nicht. Die Wende hat alles mit sich geris­sen, auch meine Erin­ne­rung. Von einem Augen­blick auf den ande­ren fiel alles ein, stürzte, brach aus­ein­an­der und sor­tierte sich neu. Nichts funk­tio­nierte mehr, keine Bezie­hun­gen, kein Impro­vi­sie­ren, kein Orga­ni­sie­ren. Quel­len ver­sieg­ten. Geld wurde wich­tig, das andere, rich­tige, und alle konn­ten alles kau­fen: Rau­fa­ser­ta­pete in allen Aus­füh­run­gen und Preis­klas­sen, Autos, Com­pu­ter und Satel­li­ten­schüs­seln. Freie Fahrt und Lego für alle und so.

Ver­stehste, der ganze ange­staute Mist brach sich Bahn mit einer Wahn­sinns­wucht. Nia­ga­ra­fälle. Da kannste nur Augen zu und durch. Und hin­ter­her sofort los­ru­dern, wenn die andern noch ver­zwei­felt nach Luft schnap­pen. Das haben wir auch gemacht, geru­dert meine ich. Bloß in die fal­sche Rich­tung. Weil, wir waren ein­fach gewohnt, immer gegen den Strom zu schwimmen.

Aber egal. Erst­mal hat­ten wir Glück – wir konn­ten einen schrott­rei­fen Sapo­rosch an einen Auto­fan aus Detroit ver­hö­kern. Der war völ­lig begeis­tert und wir zogen mit einer Stange Geld unsere eige­nen Pro­jekte durch. Mar­got star­tete zu einer Ost­see­um­run­dung mit dem Fahr­rad. Und ich? Ein Traum! Ich legte mir mei­nen ers­ten Com­pu­ter zu. Ein Com­mo­dore Amiga 500, auf­ge­rüs­tet auf ’zig Mega­byte und mit einem exter­nen Festplattenlaufwerk.

Dann zeig mal her, dein Schmuck­stück! Hm. Sys­tem­ab­sturz. Fest­plat­ten­crash. Da werd ich ein biss­chen bas­teln müs­sen. Aber keine Angst, das krie­gen wir hin!

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