Porträts
12 : Die Jenaer Bücherstube – ein guter Ort

Person

Dietmar Ebert

Ort

Jena

Thema

Porträts und Podcasts

Externe Informationen

Website der Jenaer Bücherstube

Autor

Dr. Dietmar Ebert

Thüringer Literaturrat e.V.

 

Inter­view mit dem Inha­ber der Jenaer Bücher­stube, Gun­ther Philler, 

geführt von Diet­mar Ebert am 11. Novem­ber 2020

 

D.E.: Heute ist Gun­ther Phil­ler, der Inha­ber der Jenaer Bücher­stube bei uns zu Gast. Lie­ber Gun­ther, Du bist gelern­ter Buch­händ­ler, Du hast von 1976 bis 1983 im Staat­li­chen Kunst­han­del gear­bei­tet, in der „Gale­rie im Stadt­haus“, und 1983 hast Du die Jenaer Bücher­stube über­nom­men. Wie kam es, dass Du 1983 die Jenaer Bücher­stube über­neh­men konn­test und durf­test und was war die Jenaer Bücher­stube, als Du sie ken­nen lerntest?

G.Ph.: Ich habe die Bücher­stube das erste Mal im Februar 1983 betre­ten, obwohl ich seit 1966 in Jena war. Es wurde immer gemun­kelt, was sind das für Frauen, was ist das für eine Buch­hand­lung, und da hieß es immer, das ist ’ne Sekte, also, es war immer etwas mys­tisch. Es gab Vor­hänge hin­ter den Schau­fens­tern. Es hat mich immer schon inter­es­siert: das kleine Haus, die Bücher­stube. Frau Töpp­ner, meine Vor­gän­ge­rin, suchte einen Nach­fol­ger und da das mit einem Kol­le­gen aus Leip­zig nicht klappte, ist sie auf mich gekom­men, über drei Ecken, wie das so ist: Mund-zu-Mund-Pro­pa­ganda. Und ich bin sofort hin und habe mir das Haus und die Buch­hand­lung ange­schaut, und ich wusste genau: Das ist mein Ding. So ein­fach ging es natür­lich nicht. Die Abtei­lung Kul­tur beim Rat der Stadt Jena und auch der Volks­buch­han­del muss­ten zustim­men. Da ich zu die­ser Zeit im Kunst­han­del gear­bei­tet hatte, war ich zwar gelern­ter Buch­händ­ler, hatte aber nicht im Buch­han­del gear­bei­tet, wurde aus dem Volks­buch­han­del nicht abge­zo­gen und bekam dann nach Für­spra­che mei­nes ehe­ma­li­gen Buch­hand­lungs­lei­ters, Herrn Klaus Rich­ter, und mei­ner Lehr­aus­bil­de­rin, Frau Weiß, die Buch­hand­lung zuge­spro­chen und konnte nach einer Reno­vie­rung am 1. Mai 1983 die Bücher­stube als Inha­ber eröffnen.

D.E.: Die Bücher­stube war ja so etwas wie eine „halb­staat­li­che“ Buch­hand­lung. Kannst Du uns erklä­ren, wie das funktionierte?

G.Ph.: Es war ein Haus, das gehörte der Kom­mu­na­len Woh­nungs­ver­wal­tung. Ich habe es gemie­tet, habe Mit­ar­bei­ter ein­ge­stellt, alles in eige­ner Regie und habe vom Volks­buch­han­del die Ware bekom­men. Ich musste ein Drit­tel des Waren­be­stands in Form des­sen Geld­wer­tes auf der Bank hin­ter­le­gen. Dabei hat mir der Herr Kess­ler vom Wart­burg-Ver­lag sehr gehol­fen. Und ich habe dann auf Rech­nung des Buch­han­dels ver­kauft und habe von den Ver­kaufs­er­lö­sen Pro­zente bekom­men, von denen ich wie­derum meine Mit­ar­bei­ter, die Miete und alle Kos­ten beglei­chen musste.

D.E.: Wir haben in den 1980er Jah­ren ja die Man­gel­wirt­schaft in der DDR, fast alles gab es nicht, und gute Bücher gab es auch sehr schwer, manch­mal unter dem Laden­tisch. Wie hast Du diese Zeit emp­fun­den und was war typisch für die Bücher­stube in den 1980er Jahren?

G.Ph.: Ich muss dazu sagen, wir hat­ten außer dem „nor­ma­len“ Buch­an­ge­bot ein Anti­qua­riat, ich konnte pri­vate Buch­be­stände ankau­fen, und wir hat­ten die erste Zeit noch Dru­cke vom See­mann-Ver­lag,  Kunst­dru­cke, und Mine­ra­lien. Die bekam ich zum Teil von Mit­ar­bei­tern von Zeiss, die Reste vom Lin­sen­schlei­fen, und von Samm­lern aus der Umge­bung. Das Anti­qua­riat war eine gute Ein­nah­me­quelle für die, die es mir gebracht haben. Aber es war auch für mich gut, es waren auch Sachen, die der Volks­buch­han­del nicht so rich­tig in der Optik hatte, weil ich der Ein­zige im Bezirk Gera war, der so etwas hatte. Das lief dann so etwas neben her und war eigent­lich eine gute Ein­nah­me­quelle. Ansons­ten war alles gesteu­ert, es wurde alles zuge­teilt, und als halb­staat­li­cher Buch­händ­ler oder als Kom­mis­sio­när des Volks­buch­han­dels kam ich lange hin­ter den Kreis­buch­hand­lun­gen, den Armee­buch­hand­lun­gen und den Ver­triebs­mit­ar­bei­tern, es gab manch­mal Neu­erschei­nun­gen, von denen ich nur ein oder zwei Stück bekam, aber Frau Töpp­ner hatte mich in Leip­zig bekannt gemacht und vor­ge­stellt im Insel-Ver­lag, im Union-Ver­lag, dann aber auch im See­mann-Ver­lag, und da hatte ich dann mit Hilfe von klei­nen Geschen­ken sehr gute Beziehungen.

D.E.: Ich möchte sehr gern noch auf einen Schutz­hei­li­gen der Bücher­stube zu spre­chen kom­men, des­sen Gra­fik bei Dir hängt. Ich meine Gün­ter Grass.

Viel­leicht kurz die Geschichte. Gün­ter Grass hat 1988 in der Jenaer Stadt­kir­che gele­sen und wurde von Stu­den­ten der Juris­pru­denz gefragt, ob nicht eine sei­ner Gra­fi­ken zuguns­ten eines Kran­ken­wa­gens für Nica­ra­gua, das war eine Initia­tive von Theo­lo­gen und Jura-Stu­den­ten, ver­stei­gert wer­den könnte. Diese Gra­fik ist dann ver­stei­gert wor­den. Und natür­lich gehört sie in die Bücher­stube. Aber wie kam sie  dort hin?

G.Ph.: Wir haben am 1. Mai 1988 unser fünf­jäh­ri­ges Bestehen gefei­ert; 83 – 88; wir waren noch eine kleine Gruppe, das war am Frei­tag, am Sams­tag war in der Frie­dens­kir­che die Ver­stei­ge­rung, und wir waren der Mei­nung, das  darf nicht in irgend einem Schub­fach lan­den oder in irgend einem Wohn­zim­mer hän­gen, es muss hier­her in die Bücher­stube. Es war auch die Eupho­rie, und die Lesung von Gün­ter Grass, eben die ganze Stim­mung damals. Da haben wir uns am Sams­tag in der Frie­den­kir­che wie­der ein­ge­fun­den, und haben uns ver­teilt und hat­ten eine sehr nette Kun­din, die da mit­ma­chen wollte, die aber noch nie bei einer Ver­stei­ge­rung war und die hat immer, wenn wir den Zuschlag bekom­men soll­ten, noch­mal die Hand geho­ben, und es ging noch mal höher. Wir haben dann eine erkleck­li­che Summe bezahlt, und die Gün­ter-Grass-Gra­fik gehörte uns. Aber Gün­ter Grass musste sie dann wegen des Zolls und aller ande­ren Miss­hel­lig­kei­ten wie­der mit­neh­men, und sie wurde uns dann zuge­schickt. Aber sie kam bei uns nicht an. Es dau­erte lange, und im August habe ich dann noch­mals einen Vor­stoß im Grass-Haus in Lübeck gemacht, da hieß es, die ist schon längst abge­schickt. Also kurz und gut: Irgend­wie kam sie zu einer Deck-Adresse. Die Fami­lie hat sich zwar gewun­dert, aber sie hat sie dann über’s Sofa gehängt. Ja, und jetzt hängt sie schon seit 1988 bei uns; ich bin da sehr stolz dar­auf.  Sie gehört ein­fach dazu.

D.E.: Nach­dem 1989 die Fried­li­che Revo­lu­tion auch in Jena statt­ge­fun­den hatte, steu­erte alles auf die Ver­ei­ni­gung zwi­schen den bei­den deut­schen Staa­ten zu, das heißt also, dass es nach 1990, nach dem Bei­tritt der DDR nach Art. 23, zu einer Über­nahme des Buch­ver­tei­lungs- und Buch­han­dels­sys­tem der Bun­des­re­pu­blik kam. Wie ist es Dir gelun­gen, die Bücher­stube über die schwie­rige Zeit der „Wende“ zu retten?

G.Ph.: Dazu muss ich sagen: Es war eine sehr bunte Zeit. Wir hat­ten bis zur Wäh­rungs­union ein nor­ma­les Sor­ti­ment an DDR-Ver­lags- Lite­ra­tur, mit dem wir noch gear­bei­tet haben. Es wurde sehr gut ver­kauft, weil viele aus den alten Bun­des­län­dern kamen, umge­tauscht und gekauft haben, wir konn­ten uns eigent­lich nicht bekla­gen. Aber der Volks­buch­han­del des Bezir­kes Gera sollte in eine GmbH umge­wan­delt wer­den, eine Buch­han­dels­ge­sell­schaft Ost­thü­rin­gen, das ist alles nichts gewor­den. Wir wur­den in die Frei­heit ent­las­sen, wir konn­ten unsere Geschäfte pri­vat über­neh­men, muss­ten aber vor­her unse­ren gesam­ten Inhalt der Buch­hand­lun­gen durch eine Inven­tur auf­rech­nen, ein­pa­cken; wir hat­ten leere Regale. Als die Bücher abge­holt wur­den, hab‘ ich dann gefragt, wo geht das denn hin, und da wurde mir gesagt: „Ach, das kommt zum Wert­stoff­hof nach Hof.“ Also es kam alles in den Schred­der, in den Müll. Das war einer der schreck­lichs­ten Tage mei­nes Lebens. Dann haben wir lang­sam ange­fan­gen und über Ver­tre­ter, über Mes­sen unsere Buch­hand­lung prak­tisch auf­ge­füllt mit Lite­ra­tur aus dem Wes­ten Deutsch­lands, mit Sachen, die wir nie hat­ten: Chris­toph Hein, Christa Wolf und selbst Stritt­mat­ter und sol­che Autoren, aber auch mit vie­len Büchern, mit denen wir nichts anfan­gen konn­ten, und die Ver­tre­ter konn­ten auch oft nichts mit uns anfan­gen, weil wir eben nicht die Best­sel­ler woll­ten, die kann­ten wir ja gar nicht, wir wuss­ten ja gar nicht, was angeb­lich „in“ ist, son­dern wir woll­ten Autoren haben, wie Max Frisch, Fried­rich Dür­ren­matt, Christa Wolf und Chris­toph Hein, Büchern von Gegen­wart­schrift­stel­lern, die es nie gab und die die Leute erst ein­mal kau­fen woll­ten. Die einen haben uns vor­ge­wor­fen, Ihr seid ja nun eine West­buch­hand­lung, und den ande­ren ging’s nicht schnell genug. Das war eine Zeit, in der wir über­haupt keine Zeit hat­ten, zum Glück, dar­über nach­zu­den­ken, und wir kann­ten es ja auch nicht, dass man plei­te­ge­hen konnte. Wir haben ein­fach drauf­los gearbeitet.

D.E.: Du warst ja als Inha­ber der Bücher­stube, als Inha­ber einer „klei­nen Buch­hand­lung“ viel­leicht etwas im Nach­teil gegen­über grö­ße­ren Buch­hand­lun­gen, wie der „Tho­mas-Mann-Buch­hand­lung“ oder der „Uni­ver­si­täts­buch­hand­lung“. Wie ist es Dir gelun­gen, die Bücher­stube bis heute zu einer Buch­hand­lung zu ent­wi­ckeln, die gut da steht und über eine Stamm­kund­schaft ver­fügt, wie man sich das nur wün­schen kann?

G.Ph.: Wenn ich das ›mal so sagen darf: Damals hatte ich 30 000 Ost­mark hin­ter­le­gen müs­sen. Das war ein Drit­tel mei­nes Waren­be­stan­des und das wurde geteilt, und ich hatte ein Anfangs­ka­pi­tal von 15 000 West­mark. Das war auch fast alles. Ich hatte keine Erspar­nisse, jeden­falls nichts Gro­ßes. Es war mein Anfangs­be­stand. Ich muss dazu sagen, dass sehr viele Ver­lage sehr kulant waren, die mit uns von Anfang an sehr gut gear­bei­tet haben und auch mit lan­gen Zah­lungs­fris­ten und uns immer wie­der gehol­fen haben; dann gab es den KNV, den Kom­mis­si­ons- und Groß­buch­han­del, und die saßen in Stutt­gart, und von denen haben wir dann auch ab sofort die täg­li­che Ware bekom­men, am Anfang muss­ten wir das noch über ein Fax machen. Es gab ein Fax auf der Post, es war immer ganz lus­tig die Schlan­gen da zu sehen, spä­ter wurde es dann über das Tele­fon gere­gelt, wir muss­ten um 16.00 Uhr den Tele­fon­ste­cker zie­hen und das Gerät anschlie­ßen, das sah aus wie ein gro­ßer Taschen­rech­ner, in den wir die Zah­len ein­ge­ben muss­ten, und in die­ser Zeit ist es sehr oft pas­siert, dass irgend einer in irgend einer Bau­stelle in die Lei­tung gehackt hat, und dann sind wir, weil wir uns ja alle unter ein­an­der kann­ten, erst zur Buch­hand­lung Steen, und wenn’s bei denen auch nicht klappte, zur Uni-Buch­hand­lung gegan­gen und haben unsere Bestel­lung durch­ge­ge­ben, die auch damals schon am nächs­ten Mor­gen früh um 9.00 Uhr bei uns im Geschäft lagen. Und das war natür­lich eine gute Sache; wir konn­ten damit viele Sachen über­brü­cken. Aber natür­lich waren unsere Kun­den das Wich­tigste. Es kamen Kun­den, die sag­ten: „So, Sie kön­nen uns ja jetzt auch etwas bestel­len. Wir haben frü­her bei Ihnen nichts bekom­men.“ Und sie haben alles von uns bekom­men. Das waren Sachen, die wir von Frau Töpp­ner über­nom­men hat­ten, also Fort­set­zungs­rei­hen und so etwas. Es gab Kun­den, die kamen dann nicht mehr.  Auch da hat sich Vie­les ver­än­dert. Aber ich war immer fro­hen Mutes und habe alles getan, dass ich das gut hinbekomme.

D.E.: Du hast einen Waren­be­stand an guten Büchern, könnte man sagen. Ich kann mich nicht erin­nern, in Dei­nem Schau­fens­ter, das, was man etwas nase­rümp­fend Schmutz­li­te­ra­tur nen­nen könnte, gese­hen zu haben. Auch einen Porno habe ich nie im Schau­fens­ter gese­hen. Wie erfolgt die Aus­wahl der Literatur?

G.Ph.: Das ist eine sehr oft gestellte Frage. Ich muss sagen, wenn jemand einen Porno bei mir bestel­len würde, dann würde ich das auch machen, aber ich würde das Buch mit dem Rücken nach hin­ten ins Abhol­fach stel­len, solange das bei mei­nem Zwi­schen­händ­ler zu bekom­men ist, mache ich das auch, aber … Am Anfang waren wir auch eine bunte Buch­hand­lung, das gebe ich zu, wir hat­ten Rat­ge­ber, wir hat­ten auch viele Sachen, die ein­fach gut gegan­gen sind, aber das habe ich dann ver­sucht, alles zurück­zu­fah­ren und es dann auch geschafft. Ja, was ist gute Lite­ra­tur? Und was ist keine gute Lite­ra­tur? Wir haben keine sin­gen­den und kochen­den Fuß­bal­ler, und wir haben viele Sachen nicht, von denen dann am Jah­res­ende im „Bör­sen­blatt“ steht: Das hat den Buch­han­del geret­tet. Oder: Das war wich­tig, sonst wäre der Buch­han­del nicht wei­ter­ge­kom­men. Ich konnte mich immer auf meine Kun­den ver­las­sen, aber ich habe auch ver­sucht, sie nicht zu ent­täu­schen. Wir haben vie­les mög­lich gemacht, und auch in schwie­ri­gen Zei­ten, war die Hilfe unter den Buch­hand­lun­gen sehr groß. Das ist auch dem geschul­det, dass wir irgend­wann ein­mal alle zusam­men gelernt oder gear­bei­tet haben. Wir tref­fen uns auch heute in Abstän­den immer noch, wir reden nicht über alte Zei­ten und so, nein, wir sind froh, dass wir Buch­händ­ler sein konnten.

D.E.: Das ist sehr inter­es­sant, was Du eben gesagt hast. Gibt es zwi­schen den Jenaer Buch­hand­lun­gen so etwas, das man nen­nen könnte: Kon­kur­renz und Kooperation?

G.Ph.: Ich bin mehr für Koope­ra­tion. Ich bin ein­fach so klein, dass ich mich nie als Kon­kur­rent gefühlt habe. Aber ich habe auch nicht von Anfang an gewusst oder gedacht, dass ich eine große Kette mir gegen­über habe. Wir kön­nen uns fast in die Schau­fens­ter schauen, und da gibt es sehr viele Kun­den von mir, die sich dort ori­en­tie­ren und dann bei mir bestel­len. Das ist eine große Soli­da­ri­tät auch mei­ner Kun­den. Für die wäre es ein­fach, die Bücher dort vom Sta­pel zu neh­men, aber das wol­len sie ja nicht, sie wol­len, dass wir es bestel­len und bestehen blei­ben. Und das ist eine sehr schöne Sache. Ich schätze meine Kol­le­gen in der gro­ßen Buch­hand­lung sehr; es ist manch­mal auch so, wenn ein Kunde kommt und wir haben das Gewünschte nicht da, dann sagen wir: „Ver­su­chen Sie’s bei Steens, ver­su­chen Sie’s woan­ders.“ Aber dann sagen die Kun­den: „Ja, aber wir wollen’s doch bei Ihnen kau­fen.“ Und dann sage ich ihnen: „Das nächste Mal kom­men Sie einen Tag frü­her, und dann bestel­len wir Ihnen das.“ Und dann kom­men die Kun­den und bedan­ken sich. Sie blei­ben nicht bei der Buch­hand­lung, wo Sie’s bekom­men haben, son­dern sie kom­men wie­der zu uns. Also das ist so ein gegen­sei­ti­ges Geben und Neh­men, und gerade jetzt in die­ser Zeit hat sich das sehr bewährt. Wir haben frü­her viel­leicht mehr über Bücher gespro­chen, weil es weni­ger Bücher gab, und wir haben uns dann aus­ge­tauscht, und ich hab‘ schon ›mal ein Buch ver­borgt, was dann ein­fach die Runde gemacht hat, und dann wurde dar­über erzählt. Das ist zwar heute auch noch so, aber es ist nicht mehr das Wich­tigste. Und ich kann nur sagen: Jena ist eine beson­dere Stadt, und wir haben beson­dere Kunden.

D.E.: Was erwar­ten denn die Kun­den von Dir als Inha­ber der Bücher­stube und von Dei­nen Mitarbeitern?

G.Ph.: Ich nehme an, die Kun­den wis­sen: Wir ver­kau­fen nicht um des Ver­kau­fens wil­len. Das würde uns kein Kunde ver­zei­hen. Ich kann nicht sagen: Ich ver­kaufe dem was und dann ist er ruhig, und er hat ein Buch. Ich ver­kaufe wirk­lich nur das, was ich ver­trete. Wenn’s ein Kunde bestellt, wie gesagt, dann ist es seine Sache. Wenn’s das gibt, bestelle ich ihm das. Ich bin nie­mand, der die Kun­den erzie­hen möchte…, aber wenn die Kun­den mich fra­gen: „Haben Sie das gele­sen?“ Und ich sage: „Nein, ich bin noch nicht dazu gekom­men.“ Und dann heißt es: „Na, dann komm‘ ich wie­der, wenn Sie das gele­sen haben, und dann spre­chen wir drü­ber.“ Dann, finde ich, ist das eine sehr gute Antwort.

D.E.: Was wür­dest Du denn sagen, was ist das beson­dere Flair der Bücherstube?

G.Ph.: Ja, wir haben ja in gro­ßen Tei­len noch die Ein­rich­tung von 1929, das ist eine Ein­rich­tung von den Anthro­po­so­phen aus Dor­nach, die ist direkt auf die Bücher­stube abge­stimmt und von einem Tisch­ler aus Jena 1929 gefer­tigt wor­den. Wir haben sie nur ergänzt: also jetzt ist eben mehr „fron­tale“ Prä­sen­ta­tion, das war damals nicht, und es gibt noch die alten Regale, die sich nicht in der Höhe ver­stel­len las­sen, wir haben das ver­sucht, anzu­pas­sen, aber auch der alte Laden­tisch …, das ist es, was unsere Kun­den lie­ben, und wenn sie die Stu­fen hoch­ge­hen in das auch nicht sehr große hin­tere Zim­mer, hab‘ ich das Gefühl, dann den­ken sie, viel­leicht ist auch in der Ecke etwas, was kei­ner hat. Wir haben sehr gute Bezie­hun­gen zum Insel-Ver­lag, wir haben immer ein brei­tes Ange­bot der Insel-Büche­rei, und es gibt min­des­tens zwei­mal im Monat Kun­den, die sagen: „Ach, das hab‘ ich ja seit der Wende nicht mehr gese­hen. Die gibt’s noch.“ Es sind Sachen, die die Leute mögen, und die Leute sind nicht nur Rent­ner oder ältere Kun­den, son­dern es sind auch viele jün­gere Kun­den, junge Leute, die sich bei uns sehr wohl füh­len und auch immer wie­der kom­men. Und das macht mich auch stolz!

D.E.: Dann hätte ich noch die Frage: Du hast die Bücher von bekann­ten Gegen­warts­schrift­stel­lern in der Bücher­stube im Schau­fens­ter ste­hen. Wer von den Gegen­warts­schrift­stel­lern ist denn schon mal bei Dir vor­bei­ge­gan­gen oder hat die Bücher­stube aufgesucht?

G.Ph.: Seit 1990 z. B. beglei­ten wir Sig­rid Damm bei all ihren Lesun­gen in Jena. Wenn sie in Jena ist, kommt sie in die Bücher­stube. Durch sein neues Buch kann ich Ingo Schulze nen­nen. Ja, und dann gab es sicher noch viel, viel mehr, die ›mal im Geschäft waren und die wir auch nicht immer gese­hen haben. Wir haben anfangs beim Lese­ma­ra­thon sehr viel Bücher­ti­sche gemacht, und da gab’s viele, ob das Harry Rowohlt oder wer auch immer war, viele, die uns dann am nächs­ten Tag besucht haben, wenn wir ihren Bücher­tisch hat­ten. Es gibt natür­lich auch  Autoren aus der Umge­bung, die ich hier auf kei­nen Fall ver­ges­sen möchte.

D.E.: Du hast gerade gesagt, Ihr habt die Bücher­ti­sche beim Lese­ma­ra­thon über­nom­men. Wie ist denn die Zusam­men­ar­beit mit den kul­tu­rel­len Insti­tu­tio­nen in der Stadt? Wie unter­stützt Ihr die Leseförderung?

G.Ph.: Wir machen sehr viel im Stil­len, wir sind da nicht immer in der Zei­tung, weil wir viel­leicht einen Scheck über 200 Euro irgendwo hin­ge­ge­ben haben, son­dern wir unter­stüt­zen Bücher­ti­sche, wir ver­kau­fen z.B. auch, als das noch ging, für die Ver­an­stal­tun­gen im „Trafo“ die Kar­ten, ohne dass wir dafür etwas neh­men, und wir haben eine sehr gute Zusam­men­ar­beit schon immer mit der Ernst-Abbe-Büche­rei, vor­nehm­lich natür­lich mit Angela Schu­bert, weil sie ja nun die Öffent­lich­keits­ar­beits-Ver­ant­wort­li­che war, wir haben mit Jen­a­Kul­tur sehr gute Bezie­hun­gen und kom­men mit allen, die dort was zu sagen haben, sehr gut aus. Die kau­fen pri­vat bei uns, und ich muss sagen, dass wir uns da eigent­lich in Jena nicht beschwe­ren kön­nen, wir den­ken auch, dass alle Insti­tu­tio­nen sehr viel für den Buch­han­del tun, in dem sie Auf­träge an uns geben.

D.E.: Ja, wir haben gegen­wär­tig schon wie­der ein­mal eine schwie­rige Situa­tion wegen der Corona-Pan­de­mie. Wir hat­ten im Früh­jahr schon diese Situa­tion. Wie hat sich das auf den Buch­han­del und wie hat sich das spe­zi­ell bei Euch ausgewirkt?

G.Ph.: Ich bin schon etwas älter und alt­mo­disch, und die Buch­hand­lung hat ihren 90. Geburts­tag gehabt; ich hab‘ mich viele Jahre dage­gen gewehrt, einen Online-Shop ein­zu­rich­ten. Dann habe ich mit mei­nem KNV-Zeit­fracht-Han­del und auch mit mei­nen Kin­dern und Ange­stell­ten einen Online-Shop ein­ge­rich­tet. Bes­ser: Mir wurde ein Online-Shop ein­ge­rich­tet. Ich habe gesagt: „Ich bezahle es.“ Aber mehr kann ich auch nicht. Das war bis zum März die­ses Jah­res ganz nor­mal, und dann kam die Explo­sion der Pan­de­mie, als wir im März zuma­chen muss­ten. Der Online-Han­del ist ein­fach eine gute Sache. Die Kun­den kön­nen bis 18.00 Uhr bestel­len, sie kön­nen dort alles anschauen, sie kön­nen kleine Filme schauen, kön­nen Rezen­sio­nen lesen, und sie wis­sen genau, ob’s am nächs­ten Tag da ist oder nicht; sie kön­nen sich die Bücher nach Hause schi­cken las­sen, wir brin­gen sie auch, oder es wird abge­holt. Wäh­rend der Schließ­zei­ten war es natür­lich sehr güns­tig, dass die Kun­den sich sehr viel nach Hause brin­gen oder schi­cken las­sen konn­ten, und jetzt rei­ßen die Bestel­lun­gen nicht ab, aber die Kun­den bestel­len, und holen die Bücher im Geschäft ab. Das heißt, wir haben immer noch das indi­vi­du­elle Gespräch, und wir kön­nen wei­ter­hin anbie­ten, Gesprä­che füh­ren und Bücher vor­stel­len. Das macht mich ganz glück­lich und stolz. Mei­nen Dank muss ich ein­fach  an meine Kol­le­gen wei­ter geben, zum Bei­spiel an Felix Böh­nisch, der schon seit fast 30 Jah­ren eine feste Größe im Geschäft ist. Wir haben  ein­fach durch den Online-Shop sehr gut über­lebt, und ich bin zuver­sicht­lich. Und ich bin auch nicht der Mei­nung, dass wir jetzt eine Online-Buch­hand­lung sind und dass das Online-Geschäft über­hand­nimmt. Die Kun­den, die bei Ama­zon gekauft haben, die haben auch frü­her nicht bei uns gekauft. Wir sind  gut aufgestellt.

D.E.: Es wird ja öfter die Krise des Buches beschwo­ren. Was meinst Du, wie wird sich der Buch­han­del in den nächs­ten Jah­ren ent­wi­ckeln? Und wird die Jenaer Bücher­stube eine feste Größe im Jenaer Buch­han­del bleiben?

G.Ph.: Als die „Wende“ kam und wir das erste Mal auch mit Buch­händ­lern aus den alten Bun­des­län­dern zusam­men gekom­men sind, fing damals gerade die große Welle der CD’s an. Es wur­den Bücher gele­sen auf CD’s, es gab Hör­spiele, und es wurde damals gesagt, das Buch geht zu Ende. Es wurde gesagt: Das ist jetzt die Zukunft, es war’s nicht, und es ist es nicht. Dann kam das E‑Book, und es kam die glei­che Welle. Aber das ist es auch nicht. Es besteht neben ein­an­der, und ich bin der fes­ten Mei­nung, ein Buch kann man bei einer Kerze lesen, man kann es umblät­tern, man kann es über­all mit hin neh­men, und das ist mit vie­len ande­ren Gerä­ten nicht der Fall. Wir haben ein sehr net­tes Ehe­paar, die eine große Reise gemacht haben und alles auf E‑Book mit­ge­nom­men haben, das haben wir ihnen besorgt, und es war auch alles okay, und sie waren im 7. Him­mel, sind los­ge­fah­ren und haben das Lade­ge­rät ver­ges­sen. Sie hat­ten einen lan­gen Urlaub ohne Bücher. Jetzt kau­fen sie alles wie­der hap­tisch, also sie nehmen’s aus dem Regal. Ich kann das jetzt nicht sagen, wie es wei­ter­geht; ich kämpfe für die Buch­hand­lung, und kämpfe mit der Buch­hand­lung, ich kann’s mir nicht vor­stel­len, dass es sie nicht mehr gibt. Aber es hat sich so viel ver­än­dert, und sicher­lich wer­den wir ein­fach andere Mit­tel zur Ver­fü­gung haben; ich kann ein­fach nur für die Bücher­stube spre­chen: Solange ein­fach so viel junge Leute zu uns kom­men, und die Kin­der im Kin­der­wa­gen schon begie­rig nach Büchern sind, dann kann ich mir nicht vor­stel­len, dass die Bücher­stube ver­schwin­den wird. Das wünsch‘ ich mir auch nicht.

D.E.: Also die Kin­der im Kin­der­wa­gen, die sich für die Bücher inter­es­sie­ren, die Stu­den­ten, die die Bücher lesen müs­sen und die übri­gen Kun­den, die die Bücher lesen wol­len, alle die gehö­ren „zu der Ziel­gruppe“ der Bücher­stube. Die Bücher­stube, was ist sie eigent­lich: ein Ort, an dem Bücher ver­kauft wer­den, an dem Men­schen mit­ein­an­der Gesprä­che füh­ren, ein Ort des Aus­tau­sches, ein Ort, ja, viel­leicht der kul­tu­rel­len Besin­nung oder alles zusammen?

G.Ph.: Ja, alles zusam­men. Fran­ziska Roh­ner, die Lei­te­rin der Dia­ko­nie, sie hat gesagt: Ihr müsst jetzt noch irgend­wie die Kran­ken­kas­sen-Karte mit durch­zie­hen las­sen. Wir haben sehr viele Kun­den, die bei Frau Töpp­ner schon gekauft haben, viele Kun­den, die uns immer besucht haben, weil sie irgend­wie nach der „Wende“ weg­zie­hen muss­ten, oder der Part­ner ist gestor­ben,  wie auch immer, und sie haben alle immer in der Bücher­stube eine Hei­mat gehabt und sie haben uns erzählt, wie‘s frü­her war… Wäh­rend der DDR-Zeit, wäh­rend der Zeit, als ich noch das Anti­qua­riat hatte, hatte ich oft Bücher, in denen noch die Preise von mei­ner Vor­gän­ge­rin, Frau Töpp­ner, stan­den, die dann wie­der den Weg hier­her gefun­den hat­ten. Ein­mal kam ein Ehe­paar, und sie strahl­ten beide, und ich sagte: „Ja, was ist denn los?“ Ja, sag­ten sie: „Wir sind die Johan­nis­straße hier hoch gelau­fen, und wir sind immer lang­sa­mer gewor­den, weil wir ja nicht wuss­ten, ob es hin­ter dem Johan­nis­tor die Bücher­stube noch gibt.“ Es kommt uns nicht nur dar­auf an, dass die Kasse klin­gelt, was natür­lich  wich­tig ist, und was ich auch nicht immer so genau über­schaut habe. Aber wenn die Kun­den sagen: „Was hier liegt, das hab‘ ich alles gele­sen.“ Oder, wenn es ein­fach nette Gesprä­che mit völ­lig unbe­kann­ten Men­schen gibt. Ein­mal war eine Rei­se­gruppe von Damen mitt­le­ren Alters da, sie waren mit den Fahr­rä­dern unter­wegs, und die sind zu uns gekom­men und haben uns gebe­ten, dass sie ihre Fahr­rä­der ste­hen las­sen dür­fen und ihre Ruck­sä­cke zu uns brin­gen kön­nen. Denn der Buch­han­del, das ist ein guter Ort. Völ­lig fremde Men­schen offen­ba­ren sich bei uns. Wir haben alles Mög­li­che schon gemacht, die Leute bei uns oben sit­zen las­sen, weil sie eine Stunde spä­ter zum Arzt muss­ten oder was auch immer. Es ist nicht nur eine reine Zah­len­sa­che. Wie gesagt, es gibt unheim­lich viele nette Gesprä­che. Das hat bei uns alles Platz, es ist nicht immer mit dem Gedan­ken ver­bun­den, na irgend­wann kauft sie oder kauft er was … Das hat Frau Töpp­ner schon so gemacht, siehe Ricarda Huch, und wir haben das genauso wei­ter gemacht.

D.E.: Ja, ich würde das sehr gern als Schluss­wort neh­men. Viel­leicht kön­nen wir es so ste­hen las­sen: Die Bücher­stube als guter Ort.

Und ich möchte Dir ganz per­sön­lich alles Gute wün­schen, viel Gesund­heit, um die Bücher­stube in den nächs­ten Jah­ren wei­ter­zu­füh­ren und ich wün­sche, dass nach wie vor ganz oft die Kasse klin­gelt, wün­sche aber auch, dass viele gute Gesprä­che statt­fin­den und die Bücher­stube für Jena das bleibt, was sie ist. Vie­len Dank, Gun­ther Philler.

 Porträts:

  1. Michael Knoche – »Große Kleinigkeiten. Der Dichter Wolfgang Haak«
  2. Daniela Danz – »Aus Gegensätzen Funken schlagen. Der Verleger, Ausstellungsmacher und Historiker Jens Henkel«
  3. Wulf Kirsten – »Hölderlin auf dem thüringischen Olymp«
  4. M. Kruppe & Tristan Rosenkranz – »Die ›Edition Outbird‹ und der Verleger Tristan Rosenkranz«
  5. Anke Engelmann – »Ich bin eine echte Arnstädter Frau«
  6. Mario Osterland im Gespräch mit Peter Hermann Braun
  7. Annerose Kirchner – »Andrea Schneider. Bibliothekarin aus Zella-Mehlis«
  8. »Wir hatten eine geile Zeit« - Podcast von Tristan Rosenkranz und Marko Kruppe über das Wirken Corina Gutmanns
  9. Stefan Petermann – »15 Jahre hEFt. Ein Gespräch mit Alexander Platz und Thomas Putz«
  10. Doris Weilandt – »Die Provinz greift nach den Sternen«
  11. Anke Engelmann – »›Lesen‹ ist ein Tätigkeitswort – Der Kritiker Hans-Dieter Schütt«
  12. Die Jenaer Bücherstube – ein guter Ort
  13. Nancy Hünger – »Auf dem Weg zu einem Du - Über Martin Straub«
  14. »Himmel und Hölle, aber vorwiegend Hölle« – Ein Tableau weiblichen Schreibens vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
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