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Website der Jenaer Bücherstube
Dr. Dietmar Ebert
Thüringer Literaturrat e.V.
Interview mit dem Inhaber der Jenaer Bücherstube, Gunther Philler,
geführt von Dietmar Ebert am 11. November 2020
D.E.: Heute ist Gunther Philler, der Inhaber der Jenaer Bücherstube bei uns zu Gast. Lieber Gunther, Du bist gelernter Buchhändler, Du hast von 1976 bis 1983 im Staatlichen Kunsthandel gearbeitet, in der „Galerie im Stadthaus“, und 1983 hast Du die Jenaer Bücherstube übernommen. Wie kam es, dass Du 1983 die Jenaer Bücherstube übernehmen konntest und durftest und was war die Jenaer Bücherstube, als Du sie kennen lerntest?
G.Ph.: Ich habe die Bücherstube das erste Mal im Februar 1983 betreten, obwohl ich seit 1966 in Jena war. Es wurde immer gemunkelt, was sind das für Frauen, was ist das für eine Buchhandlung, und da hieß es immer, das ist ’ne Sekte, also, es war immer etwas mystisch. Es gab Vorhänge hinter den Schaufenstern. Es hat mich immer schon interessiert: das kleine Haus, die Bücherstube. Frau Töppner, meine Vorgängerin, suchte einen Nachfolger und da das mit einem Kollegen aus Leipzig nicht klappte, ist sie auf mich gekommen, über drei Ecken, wie das so ist: Mund-zu-Mund-Propaganda. Und ich bin sofort hin und habe mir das Haus und die Buchhandlung angeschaut, und ich wusste genau: Das ist mein Ding. So einfach ging es natürlich nicht. Die Abteilung Kultur beim Rat der Stadt Jena und auch der Volksbuchhandel mussten zustimmen. Da ich zu dieser Zeit im Kunsthandel gearbeitet hatte, war ich zwar gelernter Buchhändler, hatte aber nicht im Buchhandel gearbeitet, wurde aus dem Volksbuchhandel nicht abgezogen und bekam dann nach Fürsprache meines ehemaligen Buchhandlungsleiters, Herrn Klaus Richter, und meiner Lehrausbilderin, Frau Weiß, die Buchhandlung zugesprochen und konnte nach einer Renovierung am 1. Mai 1983 die Bücherstube als Inhaber eröffnen.
D.E.: Die Bücherstube war ja so etwas wie eine „halbstaatliche“ Buchhandlung. Kannst Du uns erklären, wie das funktionierte?
G.Ph.: Es war ein Haus, das gehörte der Kommunalen Wohnungsverwaltung. Ich habe es gemietet, habe Mitarbeiter eingestellt, alles in eigener Regie und habe vom Volksbuchhandel die Ware bekommen. Ich musste ein Drittel des Warenbestands in Form dessen Geldwertes auf der Bank hinterlegen. Dabei hat mir der Herr Kessler vom Wartburg-Verlag sehr geholfen. Und ich habe dann auf Rechnung des Buchhandels verkauft und habe von den Verkaufserlösen Prozente bekommen, von denen ich wiederum meine Mitarbeiter, die Miete und alle Kosten begleichen musste.
D.E.: Wir haben in den 1980er Jahren ja die Mangelwirtschaft in der DDR, fast alles gab es nicht, und gute Bücher gab es auch sehr schwer, manchmal unter dem Ladentisch. Wie hast Du diese Zeit empfunden und was war typisch für die Bücherstube in den 1980er Jahren?
G.Ph.: Ich muss dazu sagen, wir hatten außer dem „normalen“ Buchangebot ein Antiquariat, ich konnte private Buchbestände ankaufen, und wir hatten die erste Zeit noch Drucke vom Seemann-Verlag, Kunstdrucke, und Mineralien. Die bekam ich zum Teil von Mitarbeitern von Zeiss, die Reste vom Linsenschleifen, und von Sammlern aus der Umgebung. Das Antiquariat war eine gute Einnahmequelle für die, die es mir gebracht haben. Aber es war auch für mich gut, es waren auch Sachen, die der Volksbuchhandel nicht so richtig in der Optik hatte, weil ich der Einzige im Bezirk Gera war, der so etwas hatte. Das lief dann so etwas neben her und war eigentlich eine gute Einnahmequelle. Ansonsten war alles gesteuert, es wurde alles zugeteilt, und als halbstaatlicher Buchhändler oder als Kommissionär des Volksbuchhandels kam ich lange hinter den Kreisbuchhandlungen, den Armeebuchhandlungen und den Vertriebsmitarbeitern, es gab manchmal Neuerscheinungen, von denen ich nur ein oder zwei Stück bekam, aber Frau Töppner hatte mich in Leipzig bekannt gemacht und vorgestellt im Insel-Verlag, im Union-Verlag, dann aber auch im Seemann-Verlag, und da hatte ich dann mit Hilfe von kleinen Geschenken sehr gute Beziehungen.
D.E.: Ich möchte sehr gern noch auf einen Schutzheiligen der Bücherstube zu sprechen kommen, dessen Grafik bei Dir hängt. Ich meine Günter Grass.
Vielleicht kurz die Geschichte. Günter Grass hat 1988 in der Jenaer Stadtkirche gelesen und wurde von Studenten der Jurisprudenz gefragt, ob nicht eine seiner Grafiken zugunsten eines Krankenwagens für Nicaragua, das war eine Initiative von Theologen und Jura-Studenten, versteigert werden könnte. Diese Grafik ist dann versteigert worden. Und natürlich gehört sie in die Bücherstube. Aber wie kam sie dort hin?
G.Ph.: Wir haben am 1. Mai 1988 unser fünfjähriges Bestehen gefeiert; 83 – 88; wir waren noch eine kleine Gruppe, das war am Freitag, am Samstag war in der Friedenskirche die Versteigerung, und wir waren der Meinung, das darf nicht in irgend einem Schubfach landen oder in irgend einem Wohnzimmer hängen, es muss hierher in die Bücherstube. Es war auch die Euphorie, und die Lesung von Günter Grass, eben die ganze Stimmung damals. Da haben wir uns am Samstag in der Friedenkirche wieder eingefunden, und haben uns verteilt und hatten eine sehr nette Kundin, die da mitmachen wollte, die aber noch nie bei einer Versteigerung war und die hat immer, wenn wir den Zuschlag bekommen sollten, nochmal die Hand gehoben, und es ging noch mal höher. Wir haben dann eine erkleckliche Summe bezahlt, und die Günter-Grass-Grafik gehörte uns. Aber Günter Grass musste sie dann wegen des Zolls und aller anderen Misshelligkeiten wieder mitnehmen, und sie wurde uns dann zugeschickt. Aber sie kam bei uns nicht an. Es dauerte lange, und im August habe ich dann nochmals einen Vorstoß im Grass-Haus in Lübeck gemacht, da hieß es, die ist schon längst abgeschickt. Also kurz und gut: Irgendwie kam sie zu einer Deck-Adresse. Die Familie hat sich zwar gewundert, aber sie hat sie dann über’s Sofa gehängt. Ja, und jetzt hängt sie schon seit 1988 bei uns; ich bin da sehr stolz darauf. Sie gehört einfach dazu.
D.E.: Nachdem 1989 die Friedliche Revolution auch in Jena stattgefunden hatte, steuerte alles auf die Vereinigung zwischen den beiden deutschen Staaten zu, das heißt also, dass es nach 1990, nach dem Beitritt der DDR nach Art. 23, zu einer Übernahme des Buchverteilungs- und Buchhandelssystem der Bundesrepublik kam. Wie ist es Dir gelungen, die Bücherstube über die schwierige Zeit der „Wende“ zu retten?
G.Ph.: Dazu muss ich sagen: Es war eine sehr bunte Zeit. Wir hatten bis zur Währungsunion ein normales Sortiment an DDR-Verlags- Literatur, mit dem wir noch gearbeitet haben. Es wurde sehr gut verkauft, weil viele aus den alten Bundesländern kamen, umgetauscht und gekauft haben, wir konnten uns eigentlich nicht beklagen. Aber der Volksbuchhandel des Bezirkes Gera sollte in eine GmbH umgewandelt werden, eine Buchhandelsgesellschaft Ostthüringen, das ist alles nichts geworden. Wir wurden in die Freiheit entlassen, wir konnten unsere Geschäfte privat übernehmen, mussten aber vorher unseren gesamten Inhalt der Buchhandlungen durch eine Inventur aufrechnen, einpacken; wir hatten leere Regale. Als die Bücher abgeholt wurden, hab‘ ich dann gefragt, wo geht das denn hin, und da wurde mir gesagt: „Ach, das kommt zum Wertstoffhof nach Hof.“ Also es kam alles in den Schredder, in den Müll. Das war einer der schrecklichsten Tage meines Lebens. Dann haben wir langsam angefangen und über Vertreter, über Messen unsere Buchhandlung praktisch aufgefüllt mit Literatur aus dem Westen Deutschlands, mit Sachen, die wir nie hatten: Christoph Hein, Christa Wolf und selbst Strittmatter und solche Autoren, aber auch mit vielen Büchern, mit denen wir nichts anfangen konnten, und die Vertreter konnten auch oft nichts mit uns anfangen, weil wir eben nicht die Bestseller wollten, die kannten wir ja gar nicht, wir wussten ja gar nicht, was angeblich „in“ ist, sondern wir wollten Autoren haben, wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Christa Wolf und Christoph Hein, Büchern von Gegenwartschriftstellern, die es nie gab und die die Leute erst einmal kaufen wollten. Die einen haben uns vorgeworfen, Ihr seid ja nun eine Westbuchhandlung, und den anderen ging’s nicht schnell genug. Das war eine Zeit, in der wir überhaupt keine Zeit hatten, zum Glück, darüber nachzudenken, und wir kannten es ja auch nicht, dass man pleitegehen konnte. Wir haben einfach drauflos gearbeitet.
D.E.: Du warst ja als Inhaber der Bücherstube, als Inhaber einer „kleinen Buchhandlung“ vielleicht etwas im Nachteil gegenüber größeren Buchhandlungen, wie der „Thomas-Mann-Buchhandlung“ oder der „Universitätsbuchhandlung“. Wie ist es Dir gelungen, die Bücherstube bis heute zu einer Buchhandlung zu entwickeln, die gut da steht und über eine Stammkundschaft verfügt, wie man sich das nur wünschen kann?
G.Ph.: Wenn ich das ›mal so sagen darf: Damals hatte ich 30 000 Ostmark hinterlegen müssen. Das war ein Drittel meines Warenbestandes und das wurde geteilt, und ich hatte ein Anfangskapital von 15 000 Westmark. Das war auch fast alles. Ich hatte keine Ersparnisse, jedenfalls nichts Großes. Es war mein Anfangsbestand. Ich muss dazu sagen, dass sehr viele Verlage sehr kulant waren, die mit uns von Anfang an sehr gut gearbeitet haben und auch mit langen Zahlungsfristen und uns immer wieder geholfen haben; dann gab es den KNV, den Kommissions- und Großbuchhandel, und die saßen in Stuttgart, und von denen haben wir dann auch ab sofort die tägliche Ware bekommen, am Anfang mussten wir das noch über ein Fax machen. Es gab ein Fax auf der Post, es war immer ganz lustig die Schlangen da zu sehen, später wurde es dann über das Telefon geregelt, wir mussten um 16.00 Uhr den Telefonstecker ziehen und das Gerät anschließen, das sah aus wie ein großer Taschenrechner, in den wir die Zahlen eingeben mussten, und in dieser Zeit ist es sehr oft passiert, dass irgend einer in irgend einer Baustelle in die Leitung gehackt hat, und dann sind wir, weil wir uns ja alle unter einander kannten, erst zur Buchhandlung Steen, und wenn’s bei denen auch nicht klappte, zur Uni-Buchhandlung gegangen und haben unsere Bestellung durchgegeben, die auch damals schon am nächsten Morgen früh um 9.00 Uhr bei uns im Geschäft lagen. Und das war natürlich eine gute Sache; wir konnten damit viele Sachen überbrücken. Aber natürlich waren unsere Kunden das Wichtigste. Es kamen Kunden, die sagten: „So, Sie können uns ja jetzt auch etwas bestellen. Wir haben früher bei Ihnen nichts bekommen.“ Und sie haben alles von uns bekommen. Das waren Sachen, die wir von Frau Töppner übernommen hatten, also Fortsetzungsreihen und so etwas. Es gab Kunden, die kamen dann nicht mehr. Auch da hat sich Vieles verändert. Aber ich war immer frohen Mutes und habe alles getan, dass ich das gut hinbekomme.
D.E.: Du hast einen Warenbestand an guten Büchern, könnte man sagen. Ich kann mich nicht erinnern, in Deinem Schaufenster, das, was man etwas naserümpfend Schmutzliteratur nennen könnte, gesehen zu haben. Auch einen Porno habe ich nie im Schaufenster gesehen. Wie erfolgt die Auswahl der Literatur?
G.Ph.: Das ist eine sehr oft gestellte Frage. Ich muss sagen, wenn jemand einen Porno bei mir bestellen würde, dann würde ich das auch machen, aber ich würde das Buch mit dem Rücken nach hinten ins Abholfach stellen, solange das bei meinem Zwischenhändler zu bekommen ist, mache ich das auch, aber … Am Anfang waren wir auch eine bunte Buchhandlung, das gebe ich zu, wir hatten Ratgeber, wir hatten auch viele Sachen, die einfach gut gegangen sind, aber das habe ich dann versucht, alles zurückzufahren und es dann auch geschafft. Ja, was ist gute Literatur? Und was ist keine gute Literatur? Wir haben keine singenden und kochenden Fußballer, und wir haben viele Sachen nicht, von denen dann am Jahresende im „Börsenblatt“ steht: Das hat den Buchhandel gerettet. Oder: Das war wichtig, sonst wäre der Buchhandel nicht weitergekommen. Ich konnte mich immer auf meine Kunden verlassen, aber ich habe auch versucht, sie nicht zu enttäuschen. Wir haben vieles möglich gemacht, und auch in schwierigen Zeiten, war die Hilfe unter den Buchhandlungen sehr groß. Das ist auch dem geschuldet, dass wir irgendwann einmal alle zusammen gelernt oder gearbeitet haben. Wir treffen uns auch heute in Abständen immer noch, wir reden nicht über alte Zeiten und so, nein, wir sind froh, dass wir Buchhändler sein konnten.
D.E.: Das ist sehr interessant, was Du eben gesagt hast. Gibt es zwischen den Jenaer Buchhandlungen so etwas, das man nennen könnte: Konkurrenz und Kooperation?
G.Ph.: Ich bin mehr für Kooperation. Ich bin einfach so klein, dass ich mich nie als Konkurrent gefühlt habe. Aber ich habe auch nicht von Anfang an gewusst oder gedacht, dass ich eine große Kette mir gegenüber habe. Wir können uns fast in die Schaufenster schauen, und da gibt es sehr viele Kunden von mir, die sich dort orientieren und dann bei mir bestellen. Das ist eine große Solidarität auch meiner Kunden. Für die wäre es einfach, die Bücher dort vom Stapel zu nehmen, aber das wollen sie ja nicht, sie wollen, dass wir es bestellen und bestehen bleiben. Und das ist eine sehr schöne Sache. Ich schätze meine Kollegen in der großen Buchhandlung sehr; es ist manchmal auch so, wenn ein Kunde kommt und wir haben das Gewünschte nicht da, dann sagen wir: „Versuchen Sie’s bei Steens, versuchen Sie’s woanders.“ Aber dann sagen die Kunden: „Ja, aber wir wollen’s doch bei Ihnen kaufen.“ Und dann sage ich ihnen: „Das nächste Mal kommen Sie einen Tag früher, und dann bestellen wir Ihnen das.“ Und dann kommen die Kunden und bedanken sich. Sie bleiben nicht bei der Buchhandlung, wo Sie’s bekommen haben, sondern sie kommen wieder zu uns. Also das ist so ein gegenseitiges Geben und Nehmen, und gerade jetzt in dieser Zeit hat sich das sehr bewährt. Wir haben früher vielleicht mehr über Bücher gesprochen, weil es weniger Bücher gab, und wir haben uns dann ausgetauscht, und ich hab‘ schon ›mal ein Buch verborgt, was dann einfach die Runde gemacht hat, und dann wurde darüber erzählt. Das ist zwar heute auch noch so, aber es ist nicht mehr das Wichtigste. Und ich kann nur sagen: Jena ist eine besondere Stadt, und wir haben besondere Kunden.
D.E.: Was erwarten denn die Kunden von Dir als Inhaber der Bücherstube und von Deinen Mitarbeitern?
G.Ph.: Ich nehme an, die Kunden wissen: Wir verkaufen nicht um des Verkaufens willen. Das würde uns kein Kunde verzeihen. Ich kann nicht sagen: Ich verkaufe dem was und dann ist er ruhig, und er hat ein Buch. Ich verkaufe wirklich nur das, was ich vertrete. Wenn’s ein Kunde bestellt, wie gesagt, dann ist es seine Sache. Wenn’s das gibt, bestelle ich ihm das. Ich bin niemand, der die Kunden erziehen möchte…, aber wenn die Kunden mich fragen: „Haben Sie das gelesen?“ Und ich sage: „Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen.“ Und dann heißt es: „Na, dann komm‘ ich wieder, wenn Sie das gelesen haben, und dann sprechen wir drüber.“ Dann, finde ich, ist das eine sehr gute Antwort.
D.E.: Was würdest Du denn sagen, was ist das besondere Flair der Bücherstube?
G.Ph.: Ja, wir haben ja in großen Teilen noch die Einrichtung von 1929, das ist eine Einrichtung von den Anthroposophen aus Dornach, die ist direkt auf die Bücherstube abgestimmt und von einem Tischler aus Jena 1929 gefertigt worden. Wir haben sie nur ergänzt: also jetzt ist eben mehr „frontale“ Präsentation, das war damals nicht, und es gibt noch die alten Regale, die sich nicht in der Höhe verstellen lassen, wir haben das versucht, anzupassen, aber auch der alte Ladentisch …, das ist es, was unsere Kunden lieben, und wenn sie die Stufen hochgehen in das auch nicht sehr große hintere Zimmer, hab‘ ich das Gefühl, dann denken sie, vielleicht ist auch in der Ecke etwas, was keiner hat. Wir haben sehr gute Beziehungen zum Insel-Verlag, wir haben immer ein breites Angebot der Insel-Bücherei, und es gibt mindestens zweimal im Monat Kunden, die sagen: „Ach, das hab‘ ich ja seit der Wende nicht mehr gesehen. Die gibt’s noch.“ Es sind Sachen, die die Leute mögen, und die Leute sind nicht nur Rentner oder ältere Kunden, sondern es sind auch viele jüngere Kunden, junge Leute, die sich bei uns sehr wohl fühlen und auch immer wieder kommen. Und das macht mich auch stolz!
D.E.: Dann hätte ich noch die Frage: Du hast die Bücher von bekannten Gegenwartsschriftstellern in der Bücherstube im Schaufenster stehen. Wer von den Gegenwartsschriftstellern ist denn schon mal bei Dir vorbeigegangen oder hat die Bücherstube aufgesucht?
G.Ph.: Seit 1990 z. B. begleiten wir Sigrid Damm bei all ihren Lesungen in Jena. Wenn sie in Jena ist, kommt sie in die Bücherstube. Durch sein neues Buch kann ich Ingo Schulze nennen. Ja, und dann gab es sicher noch viel, viel mehr, die ›mal im Geschäft waren und die wir auch nicht immer gesehen haben. Wir haben anfangs beim Lesemarathon sehr viel Büchertische gemacht, und da gab’s viele, ob das Harry Rowohlt oder wer auch immer war, viele, die uns dann am nächsten Tag besucht haben, wenn wir ihren Büchertisch hatten. Es gibt natürlich auch Autoren aus der Umgebung, die ich hier auf keinen Fall vergessen möchte.
D.E.: Du hast gerade gesagt, Ihr habt die Büchertische beim Lesemarathon übernommen. Wie ist denn die Zusammenarbeit mit den kulturellen Institutionen in der Stadt? Wie unterstützt Ihr die Leseförderung?
G.Ph.: Wir machen sehr viel im Stillen, wir sind da nicht immer in der Zeitung, weil wir vielleicht einen Scheck über 200 Euro irgendwo hingegeben haben, sondern wir unterstützen Büchertische, wir verkaufen z.B. auch, als das noch ging, für die Veranstaltungen im „Trafo“ die Karten, ohne dass wir dafür etwas nehmen, und wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit schon immer mit der Ernst-Abbe-Bücherei, vornehmlich natürlich mit Angela Schubert, weil sie ja nun die Öffentlichkeitsarbeits-Verantwortliche war, wir haben mit JenaKultur sehr gute Beziehungen und kommen mit allen, die dort was zu sagen haben, sehr gut aus. Die kaufen privat bei uns, und ich muss sagen, dass wir uns da eigentlich in Jena nicht beschweren können, wir denken auch, dass alle Institutionen sehr viel für den Buchhandel tun, in dem sie Aufträge an uns geben.
D.E.: Ja, wir haben gegenwärtig schon wieder einmal eine schwierige Situation wegen der Corona-Pandemie. Wir hatten im Frühjahr schon diese Situation. Wie hat sich das auf den Buchhandel und wie hat sich das speziell bei Euch ausgewirkt?
G.Ph.: Ich bin schon etwas älter und altmodisch, und die Buchhandlung hat ihren 90. Geburtstag gehabt; ich hab‘ mich viele Jahre dagegen gewehrt, einen Online-Shop einzurichten. Dann habe ich mit meinem KNV-Zeitfracht-Handel und auch mit meinen Kindern und Angestellten einen Online-Shop eingerichtet. Besser: Mir wurde ein Online-Shop eingerichtet. Ich habe gesagt: „Ich bezahle es.“ Aber mehr kann ich auch nicht. Das war bis zum März dieses Jahres ganz normal, und dann kam die Explosion der Pandemie, als wir im März zumachen mussten. Der Online-Handel ist einfach eine gute Sache. Die Kunden können bis 18.00 Uhr bestellen, sie können dort alles anschauen, sie können kleine Filme schauen, können Rezensionen lesen, und sie wissen genau, ob’s am nächsten Tag da ist oder nicht; sie können sich die Bücher nach Hause schicken lassen, wir bringen sie auch, oder es wird abgeholt. Während der Schließzeiten war es natürlich sehr günstig, dass die Kunden sich sehr viel nach Hause bringen oder schicken lassen konnten, und jetzt reißen die Bestellungen nicht ab, aber die Kunden bestellen, und holen die Bücher im Geschäft ab. Das heißt, wir haben immer noch das individuelle Gespräch, und wir können weiterhin anbieten, Gespräche führen und Bücher vorstellen. Das macht mich ganz glücklich und stolz. Meinen Dank muss ich einfach an meine Kollegen weiter geben, zum Beispiel an Felix Böhnisch, der schon seit fast 30 Jahren eine feste Größe im Geschäft ist. Wir haben einfach durch den Online-Shop sehr gut überlebt, und ich bin zuversichtlich. Und ich bin auch nicht der Meinung, dass wir jetzt eine Online-Buchhandlung sind und dass das Online-Geschäft überhandnimmt. Die Kunden, die bei Amazon gekauft haben, die haben auch früher nicht bei uns gekauft. Wir sind gut aufgestellt.
D.E.: Es wird ja öfter die Krise des Buches beschworen. Was meinst Du, wie wird sich der Buchhandel in den nächsten Jahren entwickeln? Und wird die Jenaer Bücherstube eine feste Größe im Jenaer Buchhandel bleiben?
G.Ph.: Als die „Wende“ kam und wir das erste Mal auch mit Buchhändlern aus den alten Bundesländern zusammen gekommen sind, fing damals gerade die große Welle der CD’s an. Es wurden Bücher gelesen auf CD’s, es gab Hörspiele, und es wurde damals gesagt, das Buch geht zu Ende. Es wurde gesagt: Das ist jetzt die Zukunft, es war’s nicht, und es ist es nicht. Dann kam das E‑Book, und es kam die gleiche Welle. Aber das ist es auch nicht. Es besteht neben einander, und ich bin der festen Meinung, ein Buch kann man bei einer Kerze lesen, man kann es umblättern, man kann es überall mit hin nehmen, und das ist mit vielen anderen Geräten nicht der Fall. Wir haben ein sehr nettes Ehepaar, die eine große Reise gemacht haben und alles auf E‑Book mitgenommen haben, das haben wir ihnen besorgt, und es war auch alles okay, und sie waren im 7. Himmel, sind losgefahren und haben das Ladegerät vergessen. Sie hatten einen langen Urlaub ohne Bücher. Jetzt kaufen sie alles wieder haptisch, also sie nehmen’s aus dem Regal. Ich kann das jetzt nicht sagen, wie es weitergeht; ich kämpfe für die Buchhandlung, und kämpfe mit der Buchhandlung, ich kann’s mir nicht vorstellen, dass es sie nicht mehr gibt. Aber es hat sich so viel verändert, und sicherlich werden wir einfach andere Mittel zur Verfügung haben; ich kann einfach nur für die Bücherstube sprechen: Solange einfach so viel junge Leute zu uns kommen, und die Kinder im Kinderwagen schon begierig nach Büchern sind, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass die Bücherstube verschwinden wird. Das wünsch‘ ich mir auch nicht.
D.E.: Also die Kinder im Kinderwagen, die sich für die Bücher interessieren, die Studenten, die die Bücher lesen müssen und die übrigen Kunden, die die Bücher lesen wollen, alle die gehören „zu der Zielgruppe“ der Bücherstube. Die Bücherstube, was ist sie eigentlich: ein Ort, an dem Bücher verkauft werden, an dem Menschen miteinander Gespräche führen, ein Ort des Austausches, ein Ort, ja, vielleicht der kulturellen Besinnung oder alles zusammen?
G.Ph.: Ja, alles zusammen. Franziska Rohner, die Leiterin der Diakonie, sie hat gesagt: Ihr müsst jetzt noch irgendwie die Krankenkassen-Karte mit durchziehen lassen. Wir haben sehr viele Kunden, die bei Frau Töppner schon gekauft haben, viele Kunden, die uns immer besucht haben, weil sie irgendwie nach der „Wende“ wegziehen mussten, oder der Partner ist gestorben, wie auch immer, und sie haben alle immer in der Bücherstube eine Heimat gehabt und sie haben uns erzählt, wie‘s früher war… Während der DDR-Zeit, während der Zeit, als ich noch das Antiquariat hatte, hatte ich oft Bücher, in denen noch die Preise von meiner Vorgängerin, Frau Töppner, standen, die dann wieder den Weg hierher gefunden hatten. Einmal kam ein Ehepaar, und sie strahlten beide, und ich sagte: „Ja, was ist denn los?“ Ja, sagten sie: „Wir sind die Johannisstraße hier hoch gelaufen, und wir sind immer langsamer geworden, weil wir ja nicht wussten, ob es hinter dem Johannistor die Bücherstube noch gibt.“ Es kommt uns nicht nur darauf an, dass die Kasse klingelt, was natürlich wichtig ist, und was ich auch nicht immer so genau überschaut habe. Aber wenn die Kunden sagen: „Was hier liegt, das hab‘ ich alles gelesen.“ Oder, wenn es einfach nette Gespräche mit völlig unbekannten Menschen gibt. Einmal war eine Reisegruppe von Damen mittleren Alters da, sie waren mit den Fahrrädern unterwegs, und die sind zu uns gekommen und haben uns gebeten, dass sie ihre Fahrräder stehen lassen dürfen und ihre Rucksäcke zu uns bringen können. Denn der Buchhandel, das ist ein guter Ort. Völlig fremde Menschen offenbaren sich bei uns. Wir haben alles Mögliche schon gemacht, die Leute bei uns oben sitzen lassen, weil sie eine Stunde später zum Arzt mussten oder was auch immer. Es ist nicht nur eine reine Zahlensache. Wie gesagt, es gibt unheimlich viele nette Gespräche. Das hat bei uns alles Platz, es ist nicht immer mit dem Gedanken verbunden, na irgendwann kauft sie oder kauft er was … Das hat Frau Töppner schon so gemacht, siehe Ricarda Huch, und wir haben das genauso weiter gemacht.
D.E.: Ja, ich würde das sehr gern als Schlusswort nehmen. Vielleicht können wir es so stehen lassen: Die Bücherstube als guter Ort.
Und ich möchte Dir ganz persönlich alles Gute wünschen, viel Gesundheit, um die Bücherstube in den nächsten Jahren weiterzuführen und ich wünsche, dass nach wie vor ganz oft die Kasse klingelt, wünsche aber auch, dass viele gute Gespräche stattfinden und die Bücherstube für Jena das bleibt, was sie ist. Vielen Dank, Gunther Philler.
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