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Dietmar Jacobsen
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Sibylle Bergs Romane des letzten Vierteljahrhunderts
Gelesen von Dietmar Jacobsen
Warnung vor dem Untergang
Der Roman, mit dem die 1962 in Weimar geborene Sibylle Berg ins neue Jahrtausend einstieg, »Ende gut« (2004), war eine Endzeitgeschichte, eine apokalyptische tour de force und (Schreckens-) Vision der europäischen Gegenwart vor dem Hintergrund ökologischer Katastrophen, islamistischen Terrors und amerikanischen Supermachtgebarens. Freilich: Die großen und kleinen Schrecken unserer Welt gab es bereits in den vorherigen Büchern der heute in Zürich lebenden Autorin. Wer immer sich auf Bergs Welten einließ, watete wahrlich nie im Glück, sondern fand sich in einer Art Vorhölle, die die Menschen sich gegenseitig bereiteten ohne Ansehen von Person, Alter und Herkunft. Allenfalls ein, zwei Auserwählte stachen aus dem jeweiligen menschlichen Gruselkabinett hervor, wurden aber umso schneller von den allseits herrschenden gnadenlosen Verhältnissen wieder eingeholt, je unbedingter ihr Ausbruchsverlangen war. Und auch, wenn die frühen Bücher von Sibylle Berg neckisch-neugierigmachende Namen trugen wie »Sex II« (1998), »Amerika« (1999) und »Gold« (2000), also mit scheinbaren Glücksverheißungen lockten, meistens ging in ihnen alles – Anstand, Ehrlichkeit und Existenz – schnell den Bach hinunter .
An dieser abgrunddunklen Kontrastierung menschlichen Miteinanders hält auch »Ende gut« fest. Nur blickt dieses Buch etwas weiter als lediglich hinter die Gardinen und in die Köpfe der kleinbürgerlichen Nachbarschaft. Weil am Beginn eines neuen Zeitalters, gar eines neuen Jahrtausends, Bilanzierungen wie Ausblicke durchaus angebracht sind, übertreibt Berg hier einmal den aktuellen Zustand der Welt, um auf globale Gefährdungen aufmerksam zu machen. Und ihr fällt kein Grund ein, warum gerade diejenigen gerettet werden sollten aus dem allgemeinen Untergang, die ihn selbst von lange her vorbereitet haben.
Die ca. 40-jährige Heldin des Romans, abgeklärt und allein, wenig mehr hoffend und innerlich einverstanden mit den Gewalten, die alles Leben um sie her langsam aufzehren, zu müde zur Revolte, aber einen kleinen Funken von Lebens- und Liebesgier wie eine letzte Habseligkeit bewahrend, taumelt durch die Kulissen des wiedervereinigten Deutschlands zu einer Zeit, die keineswegs so weit in der Zukunft liegt, wie der Leser es sich gelegentlich wohl wünschen mag. Alle Bedrohungen unserer Gegenwart sind in Bergs Dystopie konkreter, ja eigentlich unausweichlich geworden. Seuchen wüten. Extremisten bomben. Ideologen vernebeln das Denken. Es geht offensichtlich auf das Ende zu und Erlösung bleibt aus, weil Liebe fehlt.
Schön ist das wahrlich nicht. Aber wahr könnte es werden, denn alles, was Sibylle Berg in ihre fatalistische Romanwelt einbaut – bis hin zum Atomkrieg – ist in seiner fatalen Tendenz in unserer Gegenwart angelegt. Eingestreut in ihren Text, damit er sich nicht im Spekulieren verliert, hat die Autorin übrigens so genannte »Infohaufen«, die das Erfundene in Richtung auf das Vorgefundene öffnen, Inseln eines wenig beruhigenden Faktischen inmitten all des fiktionalen Grauens.
Doch es gibt in »Ende gut« auch einen Fluchtpunkt. Denn nach einer langen Odyssee durch das kollabierende Deutschland findet Bergs Protagonistin in einem stummen (!) Mann endlich den Gefährten, auf den sie ihr ganzes bisheriges Leben lang vergeblich gewartet hatte. Es geht nicht um Liebe in dieser Beziehung – deshalb wohl ist sie auch haltbarer -, sondern um Sicher- und Geborgenheit. Auf einem finnischen Inselchen findet sich sogar ein neuer Lebensraum, den man nicht mehr erobern muss, wie es der hergebrachte Stil der Gattung zu sein scheint, sondern einfach nur still und unauffällig beziehen kann. Platz zum Warten auf das Ende, das private und das der vom Menschen gemachten Welt. Ein – für Sibylle Berg mehr als ungewöhnliches – Happy-End? Wohl weniger. Aber der Roman endet mit dem Wort »gut« – und das ist ja schon etwas.
Flucht aus Weimar
Alles andere als gut sieht es auch im Leben von Max und Anna aus, den beiden jugendlichen Helden aus Bergs nächstem Buch »Habe ich dir eigentlich schon erzählt …« (2006). Die beiden 14-Jährigen leben in der DDR, genauer gesagt in einem Weimar, wie es die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und Jugend der Autorin diktiert: eine kleine, enge, graue, provinzielle, Kreativität behindernde Stadt in einem langweiligen Land, einem winzig kleinen Teil Europas, der sich vor seinen Nachbarn hinter Stacheldraht versteckt. Zwar gibt man hier vor, das Erbe nur der allerbesten Traditionen der Deutschen angetreten zu haben, doch Selbstvertrauen ist leider Mangelware. Und im Namen einer Idee, an die niemand mehr so richtig glaubt, bespitzeln sich viele Einwohner des Landes sogar gegenseitig.
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt …« ist ein Buch für Jugendliche unserer Tage. Vielleicht tut sich Sibylle Berg genau dieser Adressaten wegen einmal nicht so schwer mit dem Thema »Liebe«. Denn natürlich kommen ihre zwei Helden zusammen und machen sich gemeinsam auf die Flucht aus den unlebbaren Zuständen, die sie in Weimar umgeben, als würden sie in eisernen Ketten liegen. Und weil Anna und Max jung genug sind, um sich staunend und mit allen Sinnen der sich ihnen plötzlich eröffnenden Gefühlswelt hinzugeben, bekommt auch ihre unschuldige Liebe, die jeden der beiden im jeweils anderen sich selbst erkennen lässt, etwas Zukunftsträchtiges und lässt sie gemeinsam viele schwierige Situationen, die sich ihnen auf der Flucht nach Rumänien, von wo aus sie illegal in das Land ihrer Träume, die Türkei, zu gelangen hoffen, überwinden.
Ein «Märchen für alle« hat Sibylle Berg das schmale Buch genannt. Und ein Märchen mit glücklichem Ausgang ist es auch. Nicht jedes erzählte Detail darf man glauben. Nicht auf jeder Seite überzeugt der Text. Eingefleischte Berg-Leser werden sich von seinem Anfang angezogen fühlen, Leser, denen Sibylle Berg mit diesem Roman zum ersten Mal begegnet, eher von seinem Schluss. Kritische Leser werden vermerken, dass es der Autorin nicht immer gelingt, das Redewechselspiel zweier 14-Jähriger adäquat des Alters in Szene zu setzen. Manches , was die beiden äußern, klingt wirklich zu altklug. Aber ansonsten ist da viel in diesem Buch, womit Sibylle Berg in den Romanen davor eher geizte: Menschlichkeit und Überlebenswillen, Fantasie und Freundlichkeit, Hoffnung und eben Liebe.
Kein Glück. Nirgends
Nachdem »Habe ich dir eigentlich erzählt …« endlich einmal ein Berg-Text war, den man mit einem Lächeln im Gesicht verlassen konnte, stehen bereits in ihrem nächsten, ein gutes Jahr später veröffentlichten Roman »Die Fahrt« (2007) wieder Menschen »… unklaren Alters mit einer großen Lebensmüdigkeit« im Mittelpunkt. In 79 kurzen Kapiteln nimmt uns Sibylle Berg mit in das Leben von 36 Hauptpersonen an unterschiedlichsten Schauplätzen auf der ganzen Welt. Man begegnet Frederick und Fatma, Svenja und Susanti, Mr Ling (ohne Punkt hinter dem Mr) und Frau Katz, Nusrat und Parul und so weiter und so fort. Nicht nur, weil einige dieser Figuren in mehreren Kapiteln auftauchen – Spitzenreiter sind die Damen Pia, Helena und Miki mit 8 bzw. 9 Auftritten -, sondern auch, weil sich Lebenswege kreuzen, die gleichen Situationen aus dem Fokus mal der einen, mal der anderen Person erzählt werden, darf sich das Ganze Roman nennen, auch wenn es den traditionellen Rahmen dieses erzählerischen Genres um einiges sprengt.
Man könnte sogar von einem »Reiseroman« – besser vielleicht noch: »Reisepatchwork« ‑sprechen, denn die meisten von Sibylle Bergs Heldinnen und Helden sind permanent auf Achse. Tauchen mal in Europa auf, mal in Asien. Fühlen sich in Thailand ebenso fehl am Platz wie in den New Yorker Hamptons. Bekommen keine Luft in Bombay, keinen Mann in Bishkek und keinen Fuß auf den Boden des amerikanischen Traums in Venice Beach, Florida. Kurz und gut: »Die Fahrt« ist voll von Figuren, wie ihre Autorin sie immer wieder in ihren Büchern auftreten lässt: Sucher, die nichts finden, trostlose »Erwachsenenmaschinen«, Touristen unterwegs zu sich selbst ohne je anzukommen.
Mit seinem ersten und dem abschließenden Kapitel umrahmt der Roman die vielen kleinen Binnengeschichten, aus denen er besteht. »Die Fahrt« beginnt in Reykjavik und dort geht sie auch zu Ende. Trauert in kapitel 1 der Isländer Gunner Gustafson um seine Frau Gabriella, so hat er sein Haus 350 Seiten später an Frank und Ruth vermietet, die sich nach vielen individuellen Irrwegen getroffen und beschlossen haben, fortan ihr kleines Glück abseits der großen Städte, der vielen Menschen und all jener Ideen zu finden, die sie nur einsamer, nicht zufriedener gemacht haben. Doch Frank ist krank und stirbt in Ruths Armen, bevor sich bewahrheiten kann, was beiden wie die späte Summe aus all ihren Erfahrungen erschien – dass es zum Glück nichts Großes braucht, nichts von außen an den Menschen Herangetragenes, sondern nur die harmonische Zweisamkeit, das Sich-miteinander-Wohlfühlen zweier Menschen, für die alles andere dann in weite Ferne rückt.
Nur die wenigsten von Bergs Figuren erhalten die Chance, zu solchen Erkenntnissen durchzudringen. Die Welt der vielen anderen dreht sich im Kreis und sie drehen sich mit. Hetzen von Ort zu Ort, um überall dasselbe zu finden. Fragen sich in der Fremde, warum sie die Heimat verlassen haben, und in der Heimat, welche Fremde voller utopischer Versprechen sie als nächstes probieren sollten. Nirgendwo gefällt es ihnen. Überall konstatieren sie Umweltzerstörung, Chaos und Schmutz – Schmutz, der wie eine alles gleichmachende Kruste die Erde bedeckt.
Sibylle Berg gebärdet sich als zornige Prophetin in diesem Roman. Kaum etwas besteht vor ihrem Blick auf unseren Planeten. Alle Wege, die sich ihren Figuren eröffnen, führen letztendlich in zugemüllte Sackgassen. Was immer man auch probiert – es misslingt. Nicht einmal einem Tsunami halbwegs heil entkommen zu sein, ist Grund für Freude – das nächste Unglück lauert bereits um die Ecke. Aber sind all die halbverrückten Sinnsucher nicht selbst schuld? All die Rucksacktouristen und Kibbuz-Jünger in bereits fortgeschrittenem Alter? Die Likatier zu Füssen ebenso wie die Anhänger des uralten amerikanischen Traums oder jenes neueren Versprechens, aufgrund dessen man sich in die Maschen des weltweiten Netzes wirft? Gehörten denen nicht zuerst die Leviten gelesen?
Sicherlich betreibt die Autorin auch stille Zivilisationskritik. Wo die Gewinner der Globalisierung und ihre Verlierer zu suchen sind, ist ihr schon klar – da, wo sie das aussichtslose Leben Letzterer beschreibt, wirkt ihr Buch im Übrigen am authentischsten und intensivsten. Aber sie hütet sich, mit Lösungen hausieren zu gehen. Allzu viel wurde auf diesem Markt schon feilgeboten und nichts davon hat sich wirklich bewährt. Es gibt eine Art Glück, sehr fragil, immer gefährdet. Aber schon, wenn man den Weg zu ihm hinausposaunt in die Welt, hört es auf zu existieren.
Nach dem – fast happy endenden – Märchen Habe ich dir eigentlich schon erzählt … (2006) kehrt Sibylle Berg mit ihrem bis dato umfangreichsten Roman nicht nur zu ihren ästhetischen Wurzeln zurück, sondern auch zu alten Überzeugungen: Kein Glück. Nirgends. Noch weiter hat sie ihre geografischen Horizonte hinausgeschoben, in »Die Fahrt« umfasst ihr Blick praktisch die gesamte Welt. Doch überall sieht es finster aus – mit Ausnahme eines winzig kleinen Punktes, wo »nur vier Stunden ein schwaches Licht« leuchtet. Nur sehen es die meisten nicht.
Leben mit einem Mann ohne Eigenschaften
Nachdem man glückliche Paare in den Büchern Sibylle Bergs lange vergeblich suchte (Aber wer suchte die schon bei dieser Autorin?) – in der Regel lebten und liebten, hofften und harrten, sehnten und bewegten sich ihre Helden immer aneinander vorbei -, erschien 12 Jahre nach ihrem literarischen Debüt plötzlich ein Beziehungsroman aus Bergs Feder: »Der Mann schläft« (2009). Es ist die Geschichte einer Ich-Erzählerin, der aus heiterem Himmel ein männlicher Gefährte in den Schoß fällt, der weder Vor- noch Nachnamen trägt, nicht schön ist, aber auch nicht häßlich, kaum dem entspricht, »was man gemeinhin als Kleinod bezeichnete«, aber fleißig Beziehungspunkte sammelt, indem er der einsamen Schreiberin von Gebrauchsanleitungen (!) das Gefühl gibt, sie sei nichts als liebenswert. Im Übrigen verbringt er viel Zeit im Bett – und das gewöhnlich schlafenderweise, wie der Buchtitel ja bereits andeutet.
Das muss ein in den Bergschen Fatalismus und den sich daraus entwickelnden Schreibfuror verliebter Leser erst einmal schlucken. Doch nachdem man sich ein paar Dutzend Seiten lang verwundert die Augen gerieben hat ob dieser scheinbar radikal neuen Sicht auf die Dinge des Lebens, erreichen einen schon bald beruhigende Signale. Denn gut geht auch diese so harmonisch beginnende Geschichte nicht aus. Obwohl es auf einer der zwei Zeitebenen, die Sibylle Berg gekonnt aufeinander zulaufen lässt, bis die erinnerte Vergangenheit mit dem letzten Kapitel die erzählerische Gegenwart erreicht, ziemlich menschelt, wird nur allzu bald klar, dass das Abenteuer »Paarbeziehung« zu dem Zeitpunkt, da es erzählerisch reanimiert wird, schon längst vorbei ist. Von einem Gang vor die Tür während eines gemeinsamen Asienurlaubs kehrt »der Mann« nicht mehr zurück.
Vorher freilich entwickelt sich fast so etwas wie eine ideale Zweierbeziehung. Fernab jeder pubertären Aufgeregtheit und auch nahezu jenseits aller hirnvernebelnden Nur-Sexualität treffen da zwei vom Leben bisher nicht eben mit Samthandschuhen angefasste Menschen aufeinander. Und es scheint zu funktionieren. Fast von allein. Oft ohne Worte. Und leise amüsiert angesichts der mit verbalen Nichtigkeiten und hohlen Beziehungsritualen sich ringsum weiter abspielenden menschlichen Komödie unserer Tage, die die Erzählerin desto gelassener zu ertragen scheint, je enger sie sich in ihr spätes Glück einspinnt.
Bergs erstes Buch nach ihrem Verlagswechsel vom Kölner verlag Kiepenheuer & Witsch nach München zum Hanser Verlag ist routiniert erzählt und hat für sein Thema die adäquate Form gefunden. Dennoch überzeugt es über weite Strecken nicht. Das könnte auch daran liegen, dass sein – keineswegs ironisch gespiegelter – Gegenstand es in die Nachbarschaft von Texten rückt, mit denen auf einem Regalbrett zu stehen eine Zumutung für die Autorin darstellen dürfte. Liebe macht blind, sagt man. Im Falle von »Der Mann schläft« tut sie ein Übriges: Sie entschärft eine Prosa, an der wir bisher immer gerade ihre kompromisslose Unversöhnlichkeit bewundert haben.
Gegen gute Menschen ist kein Kraut gewachsen
Mit »Vielen Dank für das Leben« (2012) kehrte Berg drei Jahre später der romantischen Zweierbeziehung den Rücken zu. Schluss war (endlich) wieder mit veliebt tuenden Schnarchsäcken wie dem namenlosen Helden aus »Der Mann schläft«, der sich meistens in der Horizontalen aufhielt und maskulines Imponiergehabe nicht zu kennen schien. Unter Einsatz ihrer ganzen Schwarzsehkunst und mit einer Hauptfigur, wie sie von allen momentan auf Deutsch Schreibenden wohl nur Sibylle Berg hat einfallen können, kehrte sie zu ihren Wurzeln zurück.
Die Hauptfigur in »Vielen Dank für das Leben« trägt den Namen Toto, was ein bisschen nach italienischem Neorealismus und ein bisschen nach das Leben übertreibender Clownerie klingt. Von beidem hat die Geschichte, die im kalten Sommer des Jahres 1966 in der DDR beginnt, tatsächlich etwas. Wie bereits in »Habe ich dir eigentlich schon erzählt« malt Sibylle Berg die Welt, in die sie selbt hineingeboren wurde, grau in grau. Es riecht durchdringend nach Kohl und mit dem leicht zugänglichen Antidepressivum Alkohol helfen sich viele der auftretenden Figuren darüber hinweg, dass der Traum von einem neuen, besseren Leben und die in dessen Namen gebaute Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften: »Der glückliche Volkskörper wollte sich nicht einstellen …«.
Aber auch Bergs Held Toto ist alles andere als vollkommen. Als Hermaphrodit verbringt er die ersten Jahrzehnte seines Lebens als Mann, später, wenn es ihn – mehr aus Zufall denn gewollt – in den westlichen Teil Deutschlands verschlagen hat – wagt er den Neuanfang als Frau. Doch das ändert nichts daran, dass Toto, wo immer er/sie auch auftaucht, ein Fremdkörper ist, zuverlässig gehasst von all jenen, denen er/sie eigentlich nur Gutes tun will.
»Vielen Dank für das Leben« bedient sich der reichen Formensprache, die Sibylle Berg in den vorhergehenden zwei Jahrzehnten für sich entwickelt hat und die ihre Bücher wiedererkennbar macht. Kurzbiografien von Nebenfiguren werden schlaglichtartig in den Text eingeblendet, der die Welt aus ständig wechselnden Perspektiven einfängt. Und bereits die Kapitelüberschriften – mehr als die Hälfte der Buchabschnitte trägt schlicht die Titelzeile »Und weiter.« – vermitteln das Gefühl einer Hoffnungslosigkeit, der nicht zu entkommen ist. Um Plausibilität schert sich Sibylle Berg bei all dem wenig, vermeidet weder Klischee noch Kolportage, trägt dick auf, um nur ja keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, was sie von den großen Plänen zur Verbesserung der Menschheit hält, die immer wieder auf Null zurückgesetzt werden, um beim nächsten Anlauf erneut und noch grandioser zu scheitern.
Nein, gegen die Menschen, so erfährt man, ist kein Kraut gewachsen. Oder mit den Worten der Autorin selbst: «Degeneriert mögen sie sein, von Tumoren zersetzt, doch die sterben nicht aus, die gewöhnen sich an alles. Die Menschen.«
Was macht das Leben spannend auf der Zielgeraden?
Bergs Helden in ihrem bis dato letzten Roman »Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand« (2015 ) heißen Rasmus und Chloe. Zwanzig Jahre sind der Theaterregisseur, mit dem es langsam bergab geht, und die Antiquarin miteinander verheiratet und eigentlich scheint alles in bester Ordnung zu sein. Doch während eines Aufenthalts in einem Land der Dritten Welt – Rasmus will hier Theater mit jugendlichen Laienschauspielern machen – beginnt Chloe, über ihre Ehe nachzudenken. Im Grunde scheint die Sache noch zu funktionieren wie eh und je – allein der Sex ist nicht mehr ganz so prickelnd, wie er am Anfang war. Aber ist das so wichtig, wenn man sich liebt? Kühlt nicht jede Beziehung irgendwann einmal ab? Und sollte man nicht eher dankbar sein, wenn die Hormone einen nicht mehr in jede Venusfalle locken?
Aber wer denkt schon so rational, wenn er Mitte 40 ist, anfängt, Spiegel zu meiden, aufgehört hat, seine Geburtstage zu feiern, und sich ohnehin von den Krankenkassen verraten fühlt: »Es wird schlechter, egal, was uns die Krankenkassen erzählen von einem erfüllten Alter. Es wird schlechter, anstrengender, die Augen versagen, das Gehör fällt aus, die Osteoporose nagt. Die Menschen sind für die sogenannte zweite Lebenshälfte nicht gemacht. Wie sehr auch alle bekräftigen, wie großartig das Leben sei mit diesem entspannenden Wissen, über das sie im Alter verfügen, die Wahrheit ist: Keiner braucht alte Menschen mit ihren Weisheiten. Die Jungen wünschen sich nur, dass die Alten verschwinden, und damit haben sie recht.«
Nicht unbedingt politisch korrekt, wie Chloe denkt. Aber das kennen die Leser ja von den Heldinnen Bergs und vielleicht liest man diese Autorin auch gerade deshalb so gern, weil sie kein Blatt vor den Mund nimmt, gerne auch einmal übertreibt und Reales in Grotesk-Surreales kippen lässt. Schön fühlt sich das »Warten auf den Tod«, als das Bergs Heldin ihr Leben begreift, jedenfalls nicht an, wenn beide Partner nur noch mehr oder weniger still vor sich hin masturbieren und ihr überragendes, von gegenseitigem Verstehen getragenes Miteinander letzten Endes schuld daran zu sein scheint, dass man eigentlich nie »sexuell die Sau rauslassen« kann.
Da kommt Benny gerade recht. Der Masseur aus dem Morgenland mit seinem perfekten Körper gibt Chloe all das, wonach sie sich gesehnt hat. Zwar lässt er intellektuell ein paar Wünsche offen, doch die kann sie sich ja später von ihrem Mann erfüllen lassen. Im Moment jedenfalls ist sie komplett überwältigt von dieser vielleicht letzten Leidenschaft ihres Lebens, wendet ihrem schal gewordenem Eheglück den Rücken zu und kann von Benny auch dann nicht lassen, nachdem sie mit Rasmus wieder in Deutschland ist. Also wird der Lover nachgeholt und es beginnt eine merkwürdige Ménage a trois, in der der Ehemann schließlich derjenige ist, der dem wilden Treiben der beiden anderen vom Nachbarzimmer aus zuhören muss.
»Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand« ist ein Roman, der viele Themen und Motive, die man aus der Romanwelt Sibylle Bergs bereits kennt, noch einmal bündelt. Witzig, elegant, ein bisschen pornografisch, ein bisschen provokant, nichtsdestotrotz wunderbar lesbar und zum Nachdenken anregend. Keine Welterklärung aus dem Geiste des Nihilismus wie sein Vorgänger »Vielen Dank für das Leben« – aber streitbar und weise. Als moderner Eheratgeber freilich taugt das Buch weniger. Denn welche Erkenntnis soll man aus der Geschichte schon ziehen? Geht es doch Chloe mit ihrem neuen Lover nicht anders als mit allen anderen vorher – am Ende steht die Enttäuschung: »Nun geh schon, denke ich, geh schon […] Die Haustür schlägt hinter ihm zu. Ich beginne aufzuräumen. In zwei Wochen darf Rasmus nach Hause.«
Von Bayreuth bis Bangkok – ein etwas anderer Blick auf die Welt
»Wunderbare Jahre« hat Sibylle Berg ihr bis dato letztes Buch überschrieben. Es ist kein Roman, sondern eine Sammlung von Reisereportagen, bei denen es sich hauptsächlich um überarbeitete Kolumnen der Autorin aus den letzten zwei Jahrzehnten handelt. Allein von naiver, touristischer Weltbesichtigung mit wegen all des Exotischen weit aufgerissenen Augen kann hier beileibe nicht die Rede sein. Man zögert sogar, Bergs Texte mit herkömmlichen Reiseberichten gleichzusetzen, weil einem unterm Strich die Lust aufs Reisen mehr genommen denn gemacht wird.
Vom Bayreuther Festspielhaus bis in die Kabine eines jener Ozeanriesen, deren Motoremissionen »denen von 350.000 Autos entsprechen«, begleitet der Leser die Autorin, kehrt mit ihr an ihren Geburtsort Weimar zurück, freilich nur, um die thüringische Kleinstadt nach kurzer Zeit fluchtartig wieder zu verlassen, sieht sich nach Pakistan, Südafrika und Thailand – nach Italien gar zweimal – versetzt, doch all das ohne die im Reiseliteraturgenre sonst übliche Begeisterung für Land und Leute. Stattdessen dominieren Bestürzung bis Entsetzen. Manchmal formuliert Berg ihr Unbehagen auch ganz direkt mit der ihr eigenen Mischung aus frechem Witz, politischer Unkorrektheit und Lust an der Provokation.Und sie verschließt die Augen nicht, wenn ihr als Reisender Armut, Elend und Trostlosigkeit begegnet.
Man kann »Wunderbare Jahre« von vorn lesen oder von hinten, in einem Zug oder häppchenweise. Man kann das Buch – übrigens großartig bebildert von Isabel Kreitz – nach der Lektüre im Regal verschwinden lassen, aber auch mit auf seine nächste Reise nehmen, damit sich die eigenen Eindrücke an denen der Autorin reiben könen. Tut man Letzteres, wird man Sehenswürdigkeiten, Orte und Menschen zweifellos ein wenig anders erleben, weil Sibylle Bergs Texte hinter die plakative Oberfläche des Exotischen genauso dringen wie hinter die Oberflächlichkeit jener Reisenden, auf deren Agenda »Spaß« steht und sonst nichts.
»Es gibt einen Konsens mittelständischer Bildungsbürgerträume, zu dem zählen der Besuch der Chinesischen Mauer, einmal Nibelungen in Bayreuth, die Liebe zu Frankreich und eine Reise mit dem Orient-Express. Danach kann man sterben», heißt es an einer Stelle. Sibylle Berg hat das alles schon durch. Gestorben ist sie trotzdem nicht. Denn wenn ihr unsere heutige Welt auch überwiegend als ein kalter Ort erscheint und die Menschen darin hauptsächlich nur noch an sich selbst interessiert zu sein scheinen – die Neugier auf das, was jenseits ihrer eigenen vier Wände passiert, hat die Autorin dennoch nicht verloren.
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