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Stefan Petermann
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Die glücklichen Tage sind so viel seltener als die mittelmäßigen. Deshalb müssen Orte, an denen einem überdurchschnittlich viele glückliche Tage geschehen, von besonderem Wert sein. Wernshausen ist ein solch wertvoller Ort.
Wernshausen liegt an der Werra. Eine Mehrzweckturnhalle wurde vor einigen Jahren eingeweiht. Das ehemalige Rathaus erscheint wie ein mittelalterliches Festungsgebäude. Am Bahnhof der Imbiss ist längst ausgezogen, die Ruine der Kammgarnspinnerei verschwunden. In den Gaststätten wird Tiefkühlcamembert in Mikrowellen essbar gebacken, zwei Toastbrotdreiecksscheiben und Preiselbeeren aus dem Glas gibt es dazu. Auf der Straße grüßt man selbstverständlich die Menschen, auch jene, die einem unbekannt sind und die Menschen, sie grüßen zurück.
Im neu ausgebauten Supermarkt, der am Ausgang der Stadt liegt, holen wir uns Magnum. Magnumeis ist ein nahezu perfektes Konsumprodukt. Akustikdesigner haben viel Zeit darauf verwendet, den Klang, mit dem Zähne die Schokoladenbeschichtung knacken, zu optimieren. Lebensmitteltechniker haben nach dem idealen Zusammenspiel von Emulgatoren in der Vanille gesucht und Layouter eine silbern glänzende, verheißungsvoll knisternde Verpackung entworfen.
Aus dem Supermarkt treten wir, halten eben dieses Produkt knisternd in den Händen und überqueren den Gries, bis wir den Feldweg erreichen. Die Sonne brutzelt herunter. Sicher könnten wir das Eis schon jetzt lecken. Doch wir wollen warten, bis wir den wunderbaren Ort erreichen.
Noch müssen wir am Anglerheim vorbei, dann sind wir da. Die Werra hier ist breit. Im Wasser ist kaum Bewegung wahrzunehmen. Biber haben das Ufer unterhöhlt, Stämme sind romantisch ins Nass geglitten. Eine altmodische Eisenbahnbrücke mit nur einem Gleis spannt sich über den zum Erliegen gekommenen Strom. Wir werfen uns ins Gras, entkleiden erst uns und danach das Eis. Sonnenlicht flirrt. Insekten tanzen. Schokolade knackt.
Mit dreizehn oder vierzehn Jahren habe ich »Die wunderbaren Jahre« von Reiner Kunze gekauft. Als Teenager ist es eine Ansage, das knappe Geld für einen Prosaband einzusetzen. Dabei habe ich wenig von den Texten verstanden, die Friedenskinder, Weltfestspiele und Kartoffelkuchenteller blieben mir fremd. Ehrlich gesagt kaufte ich das Buch nur wegen des Zitats, das der unmöglichen Metapher vorangestellt war. Es lautete:
»Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre.«
Diese Zeilen haben mich umgehauen. Ein Versprechen wohnte ihnen inne, war Ausdruck einer unfassbaren Sehnsucht. Diese Worte schwebten und waren lichtdurchflutet, von geheimnisvollem Staub bedeckt. Obwohl noch nicht geschehen, lag schon eine Erinnerung in dem, was sie sagten, Melancholie, die keine Entschuldigung brauchte. Diese Worte sprachen zu mir, ohne dass ich genau benennen konnte, was sie mir mitgeben wollten. Ich beschloss, dass diese Worte von mir erzählen sollten.
Ich verstand nicht, wie dieses Zitat an dieser Stelle gemeint war. Ich nahm es eins zu eins an. Und erfuhr, dass es von Truman Capote stammte. Nach Kunze las ich Capote, alles, was ich in unserer Bibliothek finden konnte.
»Kaltblütig«, »Frühstück bei Tiffany«, »Die Stimme aus der Wolke« und natürlich »Die Grasharfe«. Ich reiste in die Südstaaten zu den Paternosterbäumen und dem farbenwechselnden Präriegras, ging verloren in endlos leeren Sommertagen, den Hausbooten und Baumhäusern, diesen verborgenen Plätzen, die Zuflucht boten vor den grauen Gezeiten.
Einige Jahre später, es muss während des Schulabschlusses gewesen sein, las Reiner Kunze in der Nähe. Ich ging auf die Lesung und bat ihn, mein Exemplar von »Die wunderbaren Jahre« zu signieren. Unter das Zitat schrieb er seinen Namen, er schrieb das Datum und er widmete.
Die Widmung galt nicht mir. Ich hatte ihm einen Namen genannt. Denn ich wollte jemanden für mich gewinnen. Ich dachte, ein Buch, gerade dieses Buch, dazu mit der Unterschrift des Autors, wäre der richtige Weg dafür. Sie bedankte sich höflich, aber ich glaube, sie kannte Reiner Kunze nicht. Sie kannte Truman Capote nicht und sie verstand auch die Melancholie in den Worten nicht. Wahrscheinlich hat sie das Buch niemals gelesen, denn nie sprachen wir über die Texte oder das Zitat. Gewinnen konnte ich sie ebenfalls nicht für mich.
Nun ist das Buch verschwunden, Kunzes‹ Widmung und sie dazu. Doch den Ort, den ich damals in diesen Worten zu sehen glaubte, habe ich Jahre später an der eingleisigen Eisenbahnbrücke am flirrenden Wasser entdeckt.
Diese Stelle würde Capote gefallen. Sie könnte aus seinen Büchern stammen. Nur in heißen, leeren Sommern ist sie magisch, denn nur dann bietet sie Schutz. Wer dort ist, fällt aus der Zeit.
Ich stelle mir vor, ich läge mit Capote und Kunze am Ufer und gemeinsam schauten wir den im Sonnenlicht tänzelnden Insekten zu. Dabei leckten wir am optimierten Magnum und redeten darüber, wie sich Erinnerung einfangen lässt. Erinnerungen sind Photonen und die sind das Letzte, was vom Universum bleiben wird. Es ist also sinnvoll, sich um Erinnerungen zu bemühen. Was sollen diese Erinnerungen in sich tragen? Was sollen sie von uns erzählen? Soll das Wunderbare, das Glück, das Melancholische den Vorzug erhalten?
In Wernshausen gibt es weitere Orte. Da ist eine verwahrloste Schule mit zerschlagenen Fensterscheiben, deren Scherben beim Darübersteigen ein Konzert spielen. Da ist ein verentengrützter Teich, an dem Busse voll mit Senioren vorbeifahren. Da ist auf einem bleichen Hügel der stille Friedhof. Und da ist ein Garten. An einen steilen Hang schmiegt er sich, ein Wald grenzt direkt an.
Ins Land schauen kann ich von hier aus. Und all die Geräusche hören. Das Summen der Papierfabrik. Das Rauschen des Verkehrs über der Fernverkehrsbrücke. Immer motorsägt und kreissägt ein fleißiger Nachbar, denn in Orten wie Wernshausen wird immer Baumaterial bearbeitet. Immer wird geschliffen und geschnitten, gehämmert und geklopft, ausgebessert wird, ersetzt und neu geschaffen.
Der Garten am Hang fällt früh in den Schatten. Es wird frisch und nur eine Decke um die Schultern gelegt macht es möglich, dem Verschwinden der Sonne zugunsten der Nacht staunend beizuwohnen. Da sind die üblichen Sterne und die üblichen Gedanken dazu, da sind die Grillen und die seltsamen Töne aus dem Wald, die in einem anderen Zusammenhang Furcht einflössen könnten. Hier aber sagen sie: Da ist etwas, was du niemals sehen wirst. Du weißt, es ist da und es macht diesen Ort erst zu diesem Ort. Sobald du danach greifen willst, verschwindet es, entwischt deinen neugierigen Händen und wachsamen Blicken. Lass es dort im Verborgenen, vergewissere dich nicht, nimm an, ohne verstehen zu wollen.
Und dann sitzen wir, schauen an den Sternen vorbei ins Tal von Wernshausen, die Kreissägen schlafen und der Durchgangsverkehr stockt, die Werra strömt und Capote und Kunze kommen vorbei und flüstern, ja, so sind sie, die glücklichen Tage, diese wunderbaren Jahre.
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