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Jan Volker Röhnert
Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.
(Weimar, 22.6.2014)
…in Dichters Lande gehen… (wie Goethe 1816 in den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des west-östlichen Divan schrieb – auch ein Liebesbuch, aber was ist das nicht bei ihm?): Dichterslande, das ist die Schrift zu allererst und nichts anderes, aber es gibt auch eine äußere Landschaft, die der Schrift ihre ’natürlichen‹ Impulse gab, eine Landschaft, in der diese Liebe zu Charlotte stattfand und sich verwirklichte auf eine Weise, die heute, anders als die Briefe und ihre Schrift, nicht mehr so einfach nachlesbar ist. Dennoch reizt der Gedanke, mit dem Gedächtnis der Goethe’schen Liebes-Briefe an Charlotte von Stein, durch die Landschaft und jene Orte zu gehen, denen sie sich verdanken und deren Physiognomie die Briefe sich auf ihre Weise anverwandelt haben – wenn man ihre Spuren in der Schrift zu lesen versteht. Weimar allein kann nur Ausgangspunkt sein, denn Goethes Briefe leben vom Unterwegssein, atmen den Austausch mit der Landschaft, welche die Residenz umgibt.
Das Ziel ist schnell gesteckt: den Weg einzuschlagen, der von Weimar nach Großkochberg, dem Schloss Charlotte von Steins, eine Bresche schlägt; es geht mir darum, diese Landschaft, zwischen deren beiden Polen sich dieser Briefwechsel über weite Strecken abgespielt hat, mit Augen von heute zu lesen; nicht so sehr nach Spuren von Goethe und Stein, sondern gehend überhaupt nach Spuren darin zu suchen, in denen ein Echo, vielleicht seiner Briefe an sie (die ihrigen hat sie sich von ihm zurück erbeten und wohl verbrannt), vielleicht von etwas ganz anderem, anschlägt. Die folgenden Notizen vom Goetheweg sind notwendig fragmentarisch, aber, verfasst nach der Lektüre von Goethes Briefen an Charlotte, in der Überzeugung entstanden, dass die Gegenwart so sehr wie nichts sonst solche Liebesbriefe begehrt, die doch nur soweit vergangen sind, als ihre schiere Anzahl und die Intensität ihrer Sprache erahnen lassen, was der Liebessprache heute fehlt. Die Liebe, das ist es jedenfalls, was einem beim Wandern durch die Gedanken geht…
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Der Weckruf: Wie eine unentwegt die Luft schneidende Stahlsaite, ein Sensenblatt, das unablässig gegen Steinkanten wetzt, ein Herumkeilen von Axtklingen in unspaltbarem Holz, entlädt sich die nimmermüde Stimme eines Spatzen an der regengrauen Morgenluft. Kinderstimmen aus den Vorgärten, sie üben den Fußball der Großen. »Es ist als wenn nichts munter macht als Ihnen zu schreiben, denn gewiß wenns nach Kochberg ginge wär ich muntrer…ich weis auch Zeiten wo ich früh aufgestanden bin, und aufwachen und aufspringen eins war« (16. Januar 1776).
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Zetern: Das ABC im Flug hersagen, sächsisch ausgesprochen fluch.
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Lektüren: die Briefe, erstes Buch; Gary Snyder, Mountains and Rivers without end; Cord Riechelmann, Krähen; Wulf Kirsten, Was ich noch sagen wollte – neue Gedichte, von ihm selber zu seinem 80. zusammengestellt, den gestern im Stadtschloss das Establishment feierte, mit Ansprachen Büffet Flötenmusik. Dabei würde es ihn am meisten ehren, die Wege, die seit Goethe keiner so aufmerksam wie er, der Landschreiter, gegangen ist, zu streifen. Also auf. Im Rucksack Wasser, Oliven, Camembert.
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Die Richtung: von der Bauhaus-Universität südwärts (also immer schon die erste Etappe nach Italien?) geradewegs die Rilkestraße hinauf, hinaus und dann weiter ins offene Gelände, den Wald, die Felder, unter freiem Himmel, von Landstraße und Autobahn gekreuzt.
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»Die Kulturgeschichte der Menschen vollzieht sich unter der Beobachtung der Krähen.« (Riechelmann, Krähen)
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Im Gehen. Der Morgen, der den Vögeln gehört. Warum stimmt mich dieser Satz poetischer als »der Morgen gehört den Vögeln«? Es ist das Verb, das der erste Satz einfordert, die Bewegung, dass Sichaufschwingen ins Atmosphärische.
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Gleich hinter der Laubenkolonie ist Stein- und Schotterweg, überschäumendes Grün, ein Hase, der unter Bäumen lange zögert, ehe er hoppelnd das Weite sucht. Welcher Satz erwartet mich bei der nächsten Biegung?
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Beim Umblicken: die Stadt in die Talmulde entrückt. Quellwolken nordwärts im Thüringer Becken. Das Ettersbergmassiv, bei dessen Anblick die Wendung unter freiem Himmel einen bitteren Beigeschmack erhält.
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Der grüngewellte Hügelhorizont hinter Vollersroda, die Autobahn, ein diffuses Rauschen mit den Feldlerchen im Vordergrund, im Rücken.
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Hinter jedem Tal blickt ein neuer Horizont. Muschelkalk der Untergrund.
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Und aus den Zweigen heraus von einem Buntspecht überrascht. Balsamine. Buchfart. In den Muschelkalk gehauene Flucht- und Trutzburg, Höhlenzuflucht, lotrecht über der Ilm. Vogelbeergeruch. Steinschmätzerschnäbel. Muschelkalkreliefs, arte naturale auf dem Weg.
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Reife Kirschbaumallee. Urrinder auf der Weide, die die Höhen über Berka einnimmt. Von dem abseits liegenden Gehöft ein Lärm, als würden Hühnern im Akkord die Hälse umgedreht.
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Der Moment, den Wald durchquert, da die Füße nur noch laufen wollen, sich eingegangen haben und nichts anderes mehr kennen als den Weg.
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Saalborn. Hundertseelenort, schätze ich, es gibt tatsächlich noch Dörfer, auf die nur Feld- und Waldwege hin münden. Hühner, Hundebellen, Fachwerk, Wasserpumpe, »Pflumpfe«, wie man im Dorf meiner Kindheit sagte. Zwei Autos bislang und einem Mann in Jagdloden und Golden Retriever an der Leine begegnet.
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Frankfurter Kennzeichen auf der Landstraße. Dunkler verspiegelter Lack. S‑Klasse. Erinnerung, als wir in der Kindheit die Westwagen auf der Autobahn zählten.
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Welches dunkle Geheimnis teilen diese Einwohner miteinander? Die vielen ausgedienten Betonsäulenbogenlampen an der Plattenstraße aufgereiht deuten auf eine ehemalige NVA-Kaserne in der Nähe hin – oder ähnliches… Jetzt hecheln dort Leute in Polo-Dressen auf künstlichen Schneisen hinter Golfbällen her.
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Jagdtreiben. Von Hundebellen hallender Hochwald, Kiefern- und Fichtenschonung. Heidelbeeren und Farne. Sammler gegrüßt. Das Waldmonster. Ein Mensch im blauen Trainingsanzug mitten im Unterholz. Gespenstisch: Ansiedlung von Blockbauten, Bungalows, Campingwagen, alles verschlossen und verriegelt, keine Seele.
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Schwarza. Der niedrigste Punkt. Sandsteingrube. Wie ausgestorben. Mittag, zur Stunde des großen Pan, bellen zwei Bestien zum Gotterbarmen – dann hinter Schwarza wieder Muschelkalk, milderes Gestein und Klima, auf Hochdorf zu, zwischen Weizensaat. Die linke Wade ein ziehender Schmerz.
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Hochdorf: Schwalbenscharen um Toreinfahrten, zwei Tauben im Straßenstaub, dann gleiten sie auf. Ein vorbeirauschender Biker fragt mich am Orientierungsplan, wo die Wege sich gabeln: »Kommen Sie klar?«
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Hinter Hochdorf im Westen hellblau gestaffelt die Höhenzüge des Thüringer Walds. Es gibt ein Wissen, dass durch die Beine geht.
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Neckeroda, das Wollfärbedorf; jedes Jahr im August, lehrt die Tafel, kämen Menschen von überallher, um die alte Kunst des natürlichen Färbens hier wieder zu erwerben. Und: das einzige Rundlingsdorf in der ganzen Republik, das noch von einer Wallanlage umschlossen sei. Großzügige offen-weite Schwalbenbauernhöfe. Genau im Lindengeäst, unter dem ich dies schreibe, rückt Kochberg nah: das erste Mal auf dem Wegweiser angezeigt.
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Der Luisenturm, 515 m über dem Meer, Panoramablick ins Saaletal und Thüringer Schiefergebirge, barg böse Überraschungen: ein Blasmusik- und Schalmeienrummel, der mich Reißaus nehmen und durch die Wälder ins Tal hinab gestürzt den eigentlichen Goetheweg, falls er sich nicht ohnehin unbeschildert im Unterholz verlief, versehentlich in Kleinkochberg herauskommen ließ. Umzäunungen, die den Weg durchs Gelände versperren. Mädchen auf einer Traktorenrampe. Nun über die Landstraße auf den letzten Kilometern das kalkweiße Renaissancewasserschloss erreicht. Irgendwo zwischen den Landkreisen, als ich den Weimarer Horizont aus dem Blick verloren hatte und außer Kiefern und Feldflächen unter Trübgewölk noch kein neuer Anhaltspunkt für die Augen aufgetaucht war, musste die Wasserscheide sein. Die Flüsse fließen hier nicht mehr zur Ilm, sondern zu Saale hin, die 8 km entfernt durch Rudolstadt zieht. Das Gefühl, als hätte ich während der letzten acht zurückliegenden Stunden ganze Welten unter meinen Sohlen vermessen.
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Das Zirren junger Turmfalken auf dem Schieferdach im Schlossinnenhof; ihr vom Wind gebauschter bräunlicher Gefiederflaum. Die Landschaft überfliegen.
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Hinter Kochberg Geißen; es wird ein Satyrspiel. Der Wald (die sichtbare Welt) scheint unendlich zu sein. Auf einen Thüringer müssen 1000 Baumstämme kommen. Dazwischen Felder: zur Linken Gerste, zur Rechten Raps. Weitersdorf, Teichweiden: so stelle ich mir die Dörfer vor, von denen mein Vater sagte: Dahinter ist die Welt zu Ende. Weitersdorf scheint nur aus einem baufälligen Gehöft und einer alten Kapelle zu bestehen; ein Dackel, leicht hinkend, ohne mich anzubellen, folgt mir blind; ich sehe die Zitzen: eine Dackelmutter. Dann bellt sie ins Gehölz, bellt die Katze an im Wiesengras. Ist es Irrsinn oder Einsamkeit, was sie mir noch weit übers Dorf hinaus folgen lässt?
An einem Kiefernstamm zwei Schwarzspechte, kurz sichtbar, dann durchs Bellen verjagt. Ich liebe ihr anarchisches Kostüm: rote Kappe, schwarzes Kleid. Der Blick über beide Seiten des Saaletals auf endlose Waldhügel, herzerweiterndes Grün ohne eine Menschenseele. Das Dorf Teichweiden (nomen ist omen) wie ausgestorben, wenngleich die Häuser frisch verputzt: hatten die Bewohner kollektiven Herzinfarkt oder sind in namenloser Panik von dannen gestürzt?
Eine halbe Ewigkeit, bis ich schließlich die breite Fensterfront der Heidecksburg, das Blattgold ihren Zinnen sehe, in Rudolstadt das Eiseltal eintreffe, immer staubwegabwärts, und zufällig noch am Geburtshaus von Schillers Gattin vorbeikomme. Das in einer Mischung aus Kupfer und Henna gefärbte Mädchen, das mir in der hübschen Altstadtgasse zulächelt, ist für mich Charlotte von Lengefeld in diesem Moment. Ich hatte Glück: ein Bus fährt nach Weimar zurück – von Residenz zu Residenz – und danke den Ilm- und Saalwassernymphen für das glückliche Geleit. Goethe sammelte Steine; ich lese auf, was er fallen ließ.
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