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Thema
Daniela Danz
Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.
1 – Durch das Brachland gehen
Der Hund rennt den Hangweg hinunter wie sonst auch, aber wir folgen ihm nicht mehr wie früher. Wir wissen, dass der Weg, so einladend er aussieht, am Ende des Hangs von einem Tor versperrt ist. Beim ersten Mal, als dieses Tor geschlossen war, hielten wir es für ein Versehen, und sind wie der Hund darunter durchgekrochen. Als das Tor auch am zweiten Tag geschlossen war, taten wir es ebenso, aber es hatte geregnet und das Kriechen auf dem Boden war keine Freude. So gingen wir am dritten Tag den Umweg, die Straße entlang, und sahen von unten aus noch einmal in Richtung des Wegs: das Tor war geschlossen. Das Tor blieb geschlossen und noch dazu schloss nun ein Drahtzaun daran an, der sich über die ganze Wiese zog. Wie kann das sein, fragten wir, dieser Weg ist der einzige, der die beiden Straßen verbindet und alle sind doch immer hier entlanggegangen. Es konnte sein. Der Weg lag auf einem privaten Grundstück und wenn er auch nur einen halben Meter breit war und das Grundstück an die 3000 Quadratmeter groß, konnte der Besitzer nicht darauf verzichten, ihn zu sperren. Es war sein gutes Recht und nur der Hund springt noch immer, wenn wir schon zum Umweg zur Straße abbiegen, fröhlich ein Stück des Wegs entlang, der wie zum Hohn nie oben abgesperrt wurde, sondern nur unten, so dass, wer ihn benutzt, erst am Ende bemerkt, dass er kein Recht hat, hier zu gehen.
Was sind die Wege unserer Kindheit? Sind sie eine Landkarte, die für immer unser Maß für Entfernungen prägt? Sind sie Weltkarten im Kleinen mit sanften Landschaften und beängstigenden Stellen? Sind sie die Wege, die wir ins Unwegsame der Welt bahnen, um uns zu versorgen mit Essen, mit Waffen, mit Behausungen: Niemand hatte Anspruch erhoben auf die Beeren und Nüsse, die Stöcke und Moospolster. Die Wege der Kindheit haben uns gelehrt, dass wir überall hinkommen, wenn wir uns anstrengen, dass es Gefahren gibt, aus denen uns keiner hilft, dass wir aus allem ein Refugium bauen können und dass es Verlorenheit gibt und Verbundenheit. Vor allem haben die Wege der Kindheit uns gelehrt, dass keiner von uns mehr über sie verfügen kann als ein anderer, dass wir zwar in erbitterter Feindschaft um ein Wäldchen kämpfen können, es uns aber doch ebenso wenig gehört wie den anderen. Dass nicht nur wir Kinder diese Wege kennen, sondern auch die Erwachsenen, sogar die Fremden, und jeder das unbebaute Brachland, durch das sie führen, auf seine Weise nutzt. Einer hat einmal eine Bank aufgestellt, die den Namen Reinhards Ruh trägt, und jeder konnte sich daraufsetzen um auszuruhen; nie haben wir gehört, dass ein Reinhard gekommen wäre, um sein Recht geltend zu machen. Wir haben unsere Namen in sie geritzt, aber wenn es einem von uns eingefallen wäre, sie zu beschädigen, hätten wir es nicht zugelassen.
Das Brachland, durch das sich die Wege unserer Kindheit ziehen, tragen wir als innere Landkarte noch immer in uns, denn sie sind uns heilig, die Orte, an denen wir noch untrennbar mit der Welt verbunden waren, an denen sich Dinge ereignet hatten, die wir miteinander teilten oder die wir als Geheimnisse tief in uns verschlossen haben – damals, als wir noch nicht ahnten, dass jemand in diesem Brachland unserer Kindheit nichts als Flurstücke sieht, die sich kaufen und nutzbar machen lassen.
2 – Durch die Straßen gehen
Wir bewegen uns fast nie gehend durch die Städte. Keine Familie, kein Paar und kaum ein Einzelner verfiele auf dem Gedanken, sonntags an eine beliebige Kreuzung zu fahren und dann von einer Straße in die nächste zu laufen. Selbst der Flaneur bleibt in seinem Viertel, so wie Rehwild sich auf seinen Wechseln bewegt. Zum beglückenden Gehen braucht es die Möglichkeit, den Weg zu verlassen. Das ist zwar auch in der Stadt möglich, indem man in Nebenstraßen abbiegt, aber innerhalb einer Häuserflucht gibt es keine Wahl. Eine Häuserflucht begrenzt den Weg, der nun ein erzwungener wird, es geht nur vor oder zurück. Noch dazu lenkt sie vom Gehen ab als eine Abfolge von Anreizen zum Verweilen: Häuser, in denen Menschen wohnen, Läden, die uns verlocken und an Dinge binden. Eine Straße ist nichts als eine nicht enden wollende Passage und nicht mal ihre Kleinteiligkeit – die Hausnummern, Schaufenster, Eingänge, die wir passieren – gibt uns weniger das Gefühl voranzukommen, als wenn wir uns durch Ödland bewegen. Gehen ist nicht nur eine Tätigkeit des Körpers, sondern vor allem eine des Geistes, und wenn es in Stücke zerteilt wird, wird auch der Geist kleinteilig. Ja, es ist richtig, die Kleinteiligkeit hilft dem Gehenden, nicht aufzugeben, wie Beppo, der Straßenkehrer dem Mädchen Momo lehrt: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat.“ Aber was gewinnt er, wenn er die Straße fertig gekehrt hat? Er hat einen weiteren Tag seine Pflicht getan, was nicht wenig ist und zumeist nottut. Allein, er ist nicht durch den Tag gegangen, sondern der Tag durch ihn. Alle Möglichkeiten sind zu Notwendigkeiten geworden. Und der Blick zurück auf die Straße zeigt, sie hat sich verändert, aber man selbst nicht.
Wenn man freilich lange durch die Straßen einer Stadt geht, sagen wir vom einen Ende von Inner London zum anderen, von Hammersmith bis Greenwich, verlieren sich die Einzelheiten, die kaum voneinander unterschiedenen Reihenhäuser, und etwas wie ein Oberflächenprofil bleibt zurück, in dem die den Weg begleitenden Straßenfluchten mal breiter, mal enger, mal niedriger oder höher werden, die Türme der City wie Baumgruppen in Sicht kommen und zurückbleiben, ein beglückendes Gehen. Ebenso die Momente, wo der Fluss das Gehen begleitet, hier und da auftauchend und dem Weg seine Wahllosigkeit nehmend. Denn freilich ist das Gehen am Fluss ganz anders als das Gehen durch die Stadt und man muss es vermeiden, wenn man den Trost abwehren will, den er bietet: Der Trost einer hunderttausend Jahre alten Notwendigkeit, dem das Gehen sich anschmiegen könnte. Wohl dem, dessen Weg ihm selbst als ein notwendiger erscheint.
3 – Durch das Haus gehen
Wir kommen nach Hause, laufen treppauf, treppab, tragen dies hierhin und räumen anderes dorthin, wir führen Gespräche zwischen Tür und Angel, tragen das Essen auf und das Geschirr ab, schlafen jeder in seinem Bett. Es gibt Stellen im Haus, an denen wir nie stehen und Stellen, an denen das Holz schon ganz dunkel von unseren Tritten ist. Wir sagen: „Nimm das gleich mit, wenn du hochgehst“ und laufen am Flurfenster vorbei und sehen, dass es draußen schneit. Wir sehen das Kind am Fenster stehen und zuschauen, wie es draußen schneit. Wir stellen uns zu ihm, kurz, bis wir weiter unsere Kreise ziehen: vom Tisch, zur Spüle, zur Tür. Ab und an nehmen wir einen Besen und mit ihm gehen wir in die Ecken, in die wir sonst nie gehen, nicht mal beim Telefonieren.
Einmal sind wir anders durchs Haus gegangen, als es leer war und wir es prüften, als alles neu war und wir es kennenlernen wollten. Wir erinnern uns kaum, wie es war, die Küche mit Schritten auszumessen, unseren Schritt der Höhe der Stufen anzupassen, den Flur entlangzugehen vom einen Ende des Hauses ans andere. Wir kennen nun alles und uns und all unsere Dinge, mit denen wir das Haus vollgestellt haben. Nur manchmal kennen wir all das nicht mehr. Manchmal fallen wir aus allem heraus, stehen fremd und ohne Grund in einem Zimmer, das uns nichts sagt, gehen durch die Räume, suchen die Selbstverständlichkeit, die Fülle eines gedankenlosen Tags. Jemand fehlt. Etwas fehlt. Wir fehlen. Das Haus ist nichts mehr als ein Dach über dem Kopf, aber es schützt uns vor nichts. Die Wände sind sehr weiß und es müsste mal gekehrt werden, aber das geht uns nichts an.
4 – Durch den Tunnel gehen
Manchmal gehen wir morgens über den Berg, es dauert länger und kostet Kraft, aber wir lassen uns von der Sonne bescheinen, bevor wir bis zum Abend in den dunklen Räumen verschwinden. Meistens aber nehmen wir den schnellen Weg durch den Tunnel, der Tag und Nacht von künstlichem Licht erhellt ist. Die Neonröhren an der Decke zielen wie ein Pfeil in die Flucht aller Linien, den fernen Endpunkt der Röhre, den Ausgang. Sie geben dem Tunnel einen Rhythmus und ab und an flackert eine und markiert in der stellenlosen Gleichförmigkeit der schmutzigen Wandkacheln eine Stelle. Wir sind auf uns gestellt, die Vorübergehenden grüßen kaum, denn der Tunnel zwingt uns alle in uns selbst. Warum sollte man um sich schauen, es ist nichts zu sehen und jeder Blick in das Gesicht eines anderen birgt die Gefahr, verbindlich zu werden – denn wohin sollten wir ausweichen, wenn der andere zurückschaut. So laufen wir strikt auf den Fluchtpunkt zu, zu dem alles flieht, der jede Einzelheit von unserer Wahrnehmung wegzieht, werden selbst eine Linie und auch unsere Gedanken werden linear, verharren nicht, sind uns voraus. Keiner sagt uns, dass wir nicht stehenbleiben dürfen, aber noch nie sind wir auch nur eine kleine Weile im Tunnel stehen geblieben.
London, Februar 2017
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