Wie anfangen.
Wie schreiben. Über etwas, das unbegreiflich bleibt.
Wie reden über einen Menschen, der gegangen ist.
Mir sehr nah war und fehlt: Dana Kern.
Sommer 2018. Es regnet in Strömen schon den ganzen Tag. Am Abend soll im Hof des Meininger Schlosses ein Konzert mit dem finnischen Akkordeonisten Kimmo Pohjonen stattfinden. Lange hat sich Kulturchefin Dana Kern um den Ausnahmemusiker bemüht, um einen Auftritt während des Sommerfestivals GRASGRÜN. Jetzt steht alles unter Wasser. Eine andere Spielstätte muss her. Nach einigen Telefonaten hat sie den Schlüssel für die Stadtkirche organisiert. Mit wenigen Kollegen wird im Eiltempo der neue Konzertsaal bezogen, Bühne, Sound und Licht eingerichtet. Kaffee gibt es aus der eigenhändig aufgebrühten Thermoskanne, das ganze Auto riecht danach. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Am Eingang bildet sich bereits eine Schlange. Dana Kern begrüßt die Wartenden mit einem Strahlen und der Auskunft, dass das Konzert nicht ausfällt. Dann eilt sie davon. Wenig später springt sie auf die Bühne, um die Musiker vorzustellen – inhaltsschwere, druckreife Sätze, die ohne Redemanuskript gesprochen werden. Die Spannung, mit der sie das Konzert erwartet, ist immer noch da und überträgt sich auf das Publikum.
Das Festival GRASGRÜN entsteht aus der Idee, die Theaterferien mit einem Sommerprogramm im Freien zu füllen. Dana Kern kann begeistern, brennen für die Arbeit in der Kultur. Sie kann streiten, andere Meinungen aushalten und für die eigene Position kämpfen. Das sind seltene Eigenschaften. Als Ermöglicherin gibt sie Künstlern und Kulturschaffenden Raum, sich zu verwirklichen, „Gestaltungsspielräume eröffnen und Kultureinrichtungen profilieren“ – kein Ausruhen auf dem Erreichten oder dem Erfolg. „Zu meinen persönlichen Stärken zähle ich Offenheit, kreative Neugier, eine breite inhaltliche Kompetenz und hohe Kommunikationsfähigkeit, Selbstständigkeit und Belastbarkeit“, schreibt sie werbend über sich selbst. Das ist keinesfalls übertrieben. Als Philosophin und Theaterwissenschaftlerin betrachtet Dana Kern Kultur in einem universalen Sinn, als Anspruch, sich zu bilden und als täglich Brot, das der Mensch zum Leben braucht. In Meiningen hat sie sich in vielen Bereichen durchgesetzt, ihre Konzepte in Veranstaltungsreihen gewandelt. Beim Gang durch die Stadt grüßt jeder.
Eine Mitstreiterin findet sie in Sylvia Gramann von der Stadt- und Kreisbibliothek. „Ich war unzufrieden mit dem Bibliotheksalltag und Dana hatte viele Ideen. Wir haben uns ergänzt – sie die Intellektuelle und ich die Praktische“, erinnert sich die Bibliothekarin. Die Meininger Literaturtage werden geboren. Die Begegnung mit Schriftstellern zu Lesungen wird Jahr für Jahr um neue Formen erweitert und mündet nach „Die Provinz greift nach den Sternen“ in der „Meininger Frühlingslese“. Einer der Höhepunkte: der deutschlandweite Poetry-Slam-Wettbewerb im Meininger Theater. „Poetry Slam muss man nicht ernst nehmen, darf man nicht einmal“, zitiert Slammer Tobias Kunze den Literaturkritiker Marcel Reich Ranitzki bei der dritten Auflage. Das Wettstreitthema „Dead or Alive“ beantwortet Kunze dabei gleich mit. Der Kampf gegen Windmühlen, der in Versen besungen wird, offenbart sich in Umweltverschmutzung, inkompetenten und korrupten Politikern, der Verflachung der Bildung und einem Reichtum, der zu sinnloser Vergeudung führt. Der Poet versteht die hohe Kunst des Wortwitzes und der geistreichen Unterhaltung. Dana Kern reagiert bei der Preisverleihung auf das Motto: „Worte sind nicht nur bewegter Wind. Sie kriechen in die Köpfe und drehen dort Knöpfe.“ Tobias Kunze denkt gern an den Abend zurück: „Ein Theaterhaus ist nicht nur einer der kulturellen Leuchttürme einer Stadt, sondern auch ein großer Multiplikator und Schaufenster von Darbietung, Interaktion und Szene. In Meiningen hat man die vielfältigen Formen und Spielarten von Poetry Slam früh auch kuratiert; so entstand hier der Sage nach das Team Scheller, das im Jahre 2014 den Meistertitel im deutschsprachigen Slam-Wettbewerb holte.“
Am Anfang verstehen viele Kollegen nicht, was die Kulturreferentin mit dem Wettbewerb erreichen möchte. Heute ist er aus dem Kulturkalender nicht mehr wegzudenken. „Dana hat immer versucht, andere Dinge in das kulturelle Leben der Stadt zu bringen. Sie wollte Angebote schaffen, auch für Jüngere“, sagt Sylvia Gramann. Zusammen haben sie neue Veranstaltungen kreiert, die klassische Form der Lesung mit Schauspielern und Sängern gemischt.
Eine der ersten Stationen der beruflichen Laufbahn von Dana Kern ist das Literaturmuseum im Meininger Baumbachhaus. Neben der wissenschaftlichen Arbeit ist sie auch für literarische Programme zuständig. Die Gelegenheit, das Haus überregional bekannt zu machen, bietet sich aber erst Jahre danach von anderer Position. 2001 jährt sich der Geburtstag des Märchendichters Ludwig Bechstein zum 200. Mal. Für sie nicht einfach ein runder Geburtstag, den es zu würdigen gilt. Sie will etwas Bleibendes schaffen, ein Festival, das wiederkehrt und auf das die Welt wartet. Womit kann man Dichtung lebendig halten? Durch einen Preis, den ersten Thüringer Märchen- und Sagenpreis. Kristin Wardetzky erhält ihn für ihre Forschungsarbeiten an der Universität der Künste Berlin und für die Gründung des Erzähltheaters „FabulaDrama“. Alle zwei Jahre wird die Auszeichnung danach an Wissenschaftler, Publizisten, Illustratoren und Künstler vergeben. „Das eine ist das Traditionelle. Das andere ist das freie Erzählen, das Narrative. Es geht immer um das Weitergeben“, beschreibt Dana Kern, worauf es ankommt. Wenn ein Erzähler den Raum betritt, braucht es nur wenige Minuten, bis Kinder und Erwachsene die Realität vergessen und mit in seine Welt eintauchen. Jeder hält den Atem an, wenn er einen Weg beschreibt, der durch Wälder führt oder über orientalische Basare, von denen ein verführerischer Duft aufsteigt. Körperlich lässt er sein Publikum miterleben, was in der Geschichte passiert. 2017 gelingt das der türkischen Erzählerin Nazli Çevik Azazi so gut, dass sie den Preis von der Jury zugesprochen bekommt. Zwei Jahre vorher fasziniert ein afrikanischer Märchenerzähler. Mensah W. Tokponto, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Cotonou (Benin), sammelt Märchen aus seiner Heimat und hält mit seinen Studenten die Tradition der mündlichen Weitergabe lebendig. „Mit jedem Greis, der in Afrika stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek“, ist seine Überzeugung. Meiningen ist zu einem Mekka der Erzählkunst und der damit verbundenen Forschung geworden. Die Provinz, Fluch und Segen für Dana Kern, hat nach den Sternen gegriffen und ihr Leuchten geschenkt bekommen.
Über ein großes Tor gelangen Mädchen und Jungen in das Reich des Drachen „KiBi“. An seiner Erschaffung haben sie selbst mitgewirkt. Die Gelegenheit, so ein Projekt in Angriff zu nehmen, bietet sich, nachdem die Meininger Bibliothek den Thüringer Bibliothekspreis (2010) gewonnen hat, der mit einem stattlichen Preisgeld verbunden ist. Dana Kern und Sylvia Gramann kommt es bei der Einrichtung der Kinderbibliothek auf die Sicht der Kinder an. Sie sollen für das Lesen begeistert werden. Sven Magnus, ein Spielzeuggestalter, wird dazu geholt. Die Ideen vom Drachen „KiBi“ und seinem Reich nehmen unter seiner Hand konkrete Formen an: Lesehöhle, Bücherthron, Hängesessel und Kuschelecke. Die Kinder wählen in den Regalen aus, was ihnen gefällt. Das spricht sich schnell in Meiningen herum. An den Nachmittagen wird die Kinderbibliothek gestürmt.
Dana Kern hat nicht an die viel beschworene Lesemüdigkeit von Kindern geglaubt, nicht an ihr ausschließliches Interesse an digitalen Medien. Jugendliche spricht sie mit Friedrich Schiller an. Der Dichter kennt sich aus mit den Gefühlen Heranwachsender, mit Liebe, Rebellion und Schmerz. Zusammen mit ihrer Rudolstädter Kollegin Petra Rottschalk nutzt sie seinen 250. Geburtstag, um ein Jugendtheaterprojekt ins Leben zu rufen. Stücke werden einstudiert und an unterschiedlichen Orten aufgeführt. Das Netzwerk erweitert sich mit Jena und Weimar auf alle vier Schillerstädte in Thüringen. Helden, Freiheit, Weltbild – jedes Jahr ein neues Thema, jedes Jahr andere Jugendgruppen. Leidenschaftlich ringt Dana Kern um den Inhalt und begibt sich selbst hinein in Stücke. Sie holt Geflüchtete auf die Bühne. In „Schillers „Die Räuber“ spielen sie mit deutschen Jugendlichen in der Räuberbande. Viele verstehen die Sprache nicht, wohl aber, was es bedeutet, zur Gruppe um Karl Moor zu gehören. Sie fühlen die Wut gegen Ungerechtigkeit, den Zusammenhalt und den Mut, für eine Idee einzutreten, sich politisch zu engagieren. „Dana Kern war ein Mensch, der keine Angst hatte, künstlerische Dinge durchzusetzen. Sie ist ein großer Verlust für die Stadt“, sagt Gabriela Gillert, Regisseurin und Leiterin für Junges Theater/Bürgerbühne im Meininger Staatstheater.
Daheim. Von den Fenstern ihres Hauses sieht Dana Kern über die Stadt im Werratal. In den letzten Jahren hat sich einiges verändert, auch in der Kultur. Die Reibungsverluste werden größer. Der Tourismus, den sie als tragende Säule begriff, ist ihr weggebrochen. Auf ihrem Schreibtisch liegt der Essay „Europadämmerung“ von Ivan Kastev. Sie denkt nach über seine Worte vom Aus für den Traum vom freien und geeinten Europa und über die Befürchtung, dass der Kontinent in der globalen Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Desintegration ist das Wort für den Zerfall der Europäischen Union. Den Zerfall der Werte spürt sie. Er kriecht ihr unter die dünne Haut. Sie fröstelt. Wie etwas gegen eine mächtige Welle tun, die droht, alles zu überfluten? Ihre Gedanken wandern zu Paul Oestreicher (*1931), dem gebürtigen Meininger, der ihr zum Freund geworden ist. Als jüdisches Kind musste er seine Heimat verlassen. Zurück kam er als Friedensbotschafter und Zeitzeuge. Auf Hiddensee hat ihn Dana Kern besucht, dafür gesorgt, dass er Ehrenbürger von Meiningen wird. Seinen 80. Geburtstag feiert er dort. Die Stadt hat zu einem Festgottesdienst in die Schlosskirche geladen. Paul Oestreicher kommt immer wieder nach Meiningen, in Schulen erzählt er den Jugendlichen aus seinem Leben und diskutiert mit ihnen. Er hat nie aufgegeben.
Ihr Blick über die Schulter. Das Lächeln, das sagt: „Jetzt brechen wir auf“. Wir fahren aus Meiningen hinaus, über kleiner werdende Straßen ständig bergauf und biegen in ein Waldstück ein. Nach mehreren Kurven erscheint eine Lichtung. Wir sind am Jagdschloss Fasanerie. Dana Kern liebt die opulenten Torten, die die Wirtsleute backen. Von der Terrasse schweift unser Blick weit ins Land, über die kegeligen Berge der Rhön. Dazwischen kleine Felder mit Getreide, Luzerne und Mohn. „Dort war die ehemalige Grenze“. Dana Kern zeigt auf einen Wachturm. Daneben steht ein Kreuz, das den Friedensweg entlang der thüringisch-bayrischen Grenze markiert. Geschichte, die wir selbst erlebt haben, lange her und doch so gegenwärtig. Im leichten Wind fühlen wir die Weite und Unbegrenztheit. Ich muss gehen. Du bleibst in der Sonne sitzen. Adieu, liebste Freundin.
Dana Kern (1957–2019) studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Leipzig, langjährige Kulturreferentin der Stadt Meiningen und Geschäftsführerin des Meininger Tourismusvereins, Mitarbeit in überregionalen Tourismus-Verbänden, darunter Schiller-Städte, Mitbegründerin und Präsidentin des Kuratoriums Kulturstadt Meiningen e.V., geschieden, zwei Kinder.
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