Personen
Orte
Thema
Wulf Kirsten
Thüringer Literaturrat e.V. / Abdruck des Textes in der »Thüringer Allgemeinen« und der »Thüringischen Landeszeitung« 11.4.2020, mit freundlicher Genehmigung des Thüringer Literaturrates.
Vorschlag für einen Osterspaziergang im Geiste oder per pedes apostolorum
Von Wulf Kirsten
Zwei Basaltkegel dominieren weithin die thüringisch-fränkische Grabfeldlandschaft Mittendurch die Straße von Römhild nach Hildburghausen. Heute im Sattel das Steinsburgmuseum mit zahlreichen Fundstücken keltischer Herkunft. Vorwiegend aus der Grabungsstätte Widarogelstadt (Widderstadt) nahe Jüchsen. Harald Gerlach, später auch Walter Werner erschlossen mir die Landschaft. Der Große Gleichberg (679 m) mit einem Basaltsteinbruch lag zu DDR-Jahrzehnten bereits im Sperrgebiet (5 km bis zur Grenze). Der Kleine Gleichberg (mal mit 641 m, mal mit 642 m ausgewiesen) war eine keltische Fluchtburg. Dreifach mit Basaltmauern eingekreist, abgeschirmt, die im 19. Jahrhundert zerstört worden, um Baumaterial zu gewinnen. Der Waldweg hinauf, auf dem ich mich nach mindestens fünf Erklimmungen einigermaßen auskenne. Wenn es nun auch gewiß ist, dass keine weiteren Aufstiege dem Gehbehinderten mehr möglich sind. Sommers der eingerünte Hang ein mit Bärlauch bestandenes Areal. Nachdem ich inzwischen von Gleichamberg aus auch einmal mich auf dem Großen Gleichberg umsehen konnte, halte ich die etwas kleinere Bergspitze für die weitaus interessantere. Nicht nur, weil diese Erhebung durch Friedrich Hölderlins Exkursion geadelt und zum thüringischen Olymp erhoben wurde. In die Reihe der Kollegen und Kolleginnen, die ihre Anwesenheit poetisch bekundeten, gehört unbedingt die von mir hochgeschätzte Poetessa Helga M. Novak, die 1974–1977 mit Horst Karasek (»Das Haus an der Grenze. Eine Fluchtgeschichte«, 1987) in dem Dorf Breitensee, seinerzeit zwei Kilometer grenzüberwärts im zeitweiligen »feindlichen Ausland« lebte.
Als es weder Grenze noch Sperrzonen mehr gab, bin ich mehrfach von Milz (dem attraktivsten Grabfeld-Dorf) und Hindfeld aus in Breitensee gewesen. Stand etwas erhöht am Dorfrand, um den Blick auf die beiden Basaltkegel zu gewinnen, den Helga M. Novak nahm. Aber ehe ich mich im poetisch bestückten Unterholz der Literatur verheddere, nun endlich doch den großen Zeitsprung zurück zu Friedrich Hölderlin, um den Nachgang seiner Wanderung anzuregen. So wie ich mit Kollegen vorzeiten Jakob van Hoddis nachlief von Frnakenhain nach Erfurt auf einer Tagestour (33 km), geleitet von Wegewart Martin Stade (1931–2018).
In den letzten Dezembertagen des Jahres 1793 trat Hölderlin, dreiundzwanzigjährig, die Stelle eines Hofmeisters im fränkischen Waltershausen an. Zu seinen Obliegenheiten gehörte die Erziehung und Ausbildung des Sprößlings der Familie von Kalb. Wie sich sehr rasch herausstellte ein enervierender Fall, der nicht sonderlich fruchtete, wenn überhaupt davon die Rede sein kann. Nach einem Jahr gab er die Stelle auf. Seine Verehrung Schillers zog ihn nach Jena. Die Schlossherrin Charlotte von Kalb, geborene Marschalk von Ostheim (1761–1843) hielt sich seit Monaten in Jena auf. Angeblich hatte sie Hölderlin dem Waltershäuser Schlosspersonal, Ehemann vermutlich inbegriffen, nicht angekündigt. Der problematische, um das Mißraten etwas abzuschwächen, sollte seinem Hofmeister »keine ruhige Stunde« bereiten. Unter diesen Umständen, vor diesem Hintergrund ist Hölderlins Sonntagsexkursion vom 17. August 1794 auf den Kleinen Gleichberg als wohl viel eher erholsamer, beruhigender, ausgleichender Ausflug zu sehen. In dem Brief vom 21. August 1794 aus Waltershausen berichtet er seinem Halbbruder Carl Christoph Friedrich Gock (1776–1849) davon: »Letzten Sonntag war ich auf dem Gleichberge, der sich eine Stunde von Römhild über die weite Ebene erhebt. Ich hatte gegen Osten das Fichtelgebirge (an der Grenze von Franken und Böhmen), gegen Westen das Rhöngebirge, das die Grenze von Franken und Hessen, gegen Norden den Thüringer Wald, der die Grenze von Franken und Thüringen macht, gegen mein liebes Schwaben hinein, südwestlich, den Staigerwald (sic) zum Ende meines Horizonts. So studiert’ ich am liebsten die Geographie der beiden Halbkugeln, wenn es sein könnte.« Zuvor hatte er in dem Brief seinem Herzen Luft gemacht, indem er seine Situation, die Erlebnisse mit dem Zögling verallgemeinerte: »Glaube mir, mir wird sonderbar zu Mut, wenn ich der Hoffnung gedenke, die man sich vom folgenden Jahrhundert macht, und die verkrüppelten, kleingeisterischen, rohen, anmaßlichen, unwissenden, trägen Jünglinge dagegen stelle, deren es überall so viele gibt, und die alsdann ihre Rolle spielen sollen. Die wenigen, die noch eine Ausnahme machen, müssen sich ermuntern und unterstützen.«
Eine explizite, auskunftsfreudige Grabfeldkarte lässt mich die 12-km-Tour wenigstens in Gedanken nachvollziehen sowie auch der Wiederholung anempfohlen sein lassen, ohne mich für die Streckenlänge verbürgen zu können: Aufbruch von Schloss Waltershausen bei Saal und Wülfershausen an der fränkischen Saale nach Gollmuthhausen, weiter nach Höchheim, Irmelshausen, Milz, Römhild, Kleiner Gleichberg links der Waldstraße nach Hildburghausen. Mag sein, dass Ortskundige von verkürzenden Feldwegen wissen. Sicheres Geleit eines Wegewarts wäre nicht zu verachten. Falls mein Vorschlag auf fruchtbaren Boden für Nachläufer zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins fallen sollte.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/portraets/wulf-kirsten-hoelderlin-auf-dem-thueringischen-olymp/]