»Die Erde in Ostgalizien ist schwarz und saftig und sieht immer etwas schläfrig aus, wie eine riesige fette Kuh, die dasteht und sich gutmütig melken läßt,« schrieb der bedeutende jüdische Schauspieler Alexander Granach (1890–1945) über seine Herkunft in senem autobiographischen Roman Da geht ein Mensch. Der Künstler stammte aus Werbiwici, jiddisch Werbowitz, polnisch Wierzbowce in der Nähe von Kolomea, nahe der Stadt Lemberg, die als geographischer Ort und Kulturmetrole ebenfalls so viele unterschiedliche sprachliche Benennung erfahren hat wie Czernowitz in der Bukowina.
Galizien, diesem längst als Mythos in der Vergangenheit verschwundenen Vielvölkerstaat, in dem neben Polen, Ukrainern, Juden, Deutschen, Armeniern, Ungarn, Slowaken oder Rumänen noch andere kleine Ehtnien lebten wie die Bojken und Huzulen, lag am Rande von Europa und war vor allem dem geistigen Europa sehr nach. Immer ein Spielball der Großmächte Rußland, Polen und Preußen. Im Zuge der ersten polnischen Teilung 1772 fiel diese neue Provinz – bestehend aus Ostgalizien mit dem Zentrum Lemberg und Westgalizien mit Krakau – an die habsburgische Monarchie und erhielt den klingenden, fast geheimnisvollen Namen »Königreich Galizien und Lodomerien«.
In den Jahren ab 1890 bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieg suchten viele ostjüdische Familien eine neue Heimat. Kurz vor und nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 setzte eine große Fluchtwelle ein. Tausende Menschen wanderten nach Übersee aus, vor allem nach Amerika, oder in den Westen, in die großen Städte wie Berlin. Joseph Roth (1894–1939), als Sohn jüdischer Eltern in Brody geboren und einer der bedeutendsten Galizien-Erzähler schrieb in seinem Essay »Reise durch Galizien« von 1924 über »Leute und Gegend«:
Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm. Sie sind Bauern, Händler, kleine Handwerker, Beamte, Soldaten, Offiziere, Kaufleute, Bankmenschen, Gutsbesitzer. Zu viele Händler, zu viel Beamte, zu viel Soldaten, zu viel Offiziere gibt. Alle leben eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern.
An anderer Stelle heißt es: Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit.
Zu den Flüchtlingen, die sich aus Angst vor Pogromen, sozialer Diskriminierung, Not und Armut und der Bedrohung durch die russischen Soldaten, auf einen langen, gefährlichen und beschwerlichen Weg machten, gehörte auch Aron Katz, Jahrgang 1882 mit seiner Familie: Ehefrau Goldy und die beiden Söhne Michael (1904 oder 1908 geboren) und Hersch Wolff (geboren am 31. 12. 1906). Sie kamen aus dem kleinen Städtchen Rudky südwestlich von Lemberg.
Eine Irrfahrt war ihre Flucht nicht, denn das Ziel stand fest: Gera, in Ostthüringen, im Fürstentum Reuß jüngere Linie. Hier lebten um 1900 rund 45.630 Einwohner. 1919 waren es schon fast 74.000. Unter ihnen auch zahlreiche angesehene jüdische Bürger, wie Max Biermann, der noch vor Kaufhausgründer Oscar Tietz im Jahr 1878 am Johannisplatz ein Textilkaufhaus eröffnete, das bald zu den ersten Adressen der Stadt gehörte.
Es ist möglich, dass Mathis Katz, der als erster aus der Familie Ostgalizien verlassen hatte, seinem Bruder Aron von der reichen Stadt Gera und den Möglichkeiten, sich hier eine Existenz aufbauen zu können, berichtete. Vielleicht lud er ihn sogar ein. Als Letzter der drei Brüder kam Leo Katz Anfang der 1920er Jahre nach Gera. Leo und Mathis betrieben nun ein gemeinsames Geschäft für Wäsche und Bekleidungsartikel im Stadtzentrum. Leo war auch als Reisender unterwegs.
Der Ursprung der Brüder lag in Sokal, nördlich von Lemberg. Aron Katz arbeitete mit den Brüdern zusammen und eröffnete bald ein eigenes Geschäft, eine Fellhandlung mit Rohprodukten. Die Geschäfte der Katz-Brüder befanden sich im Stadtzentrum von Gera, größtenteils im Gebiet des Zschochernplatzes, mit wechselnden Adressen.
Was für ein Kulturschock muss es für Aron Katz gewesen sein, der nur jiddisch sprach und nun in einer richtigen deutschen Stadt lebte, die gar nichts mit der Welt des Schtetls zu tun hatte.
Der Ostjude weiß in seiner Heimat nichts von der sozialen Ungerechtigkeit des Westens; nichts von der Herrschaft des Vorurteils, das die Wege, Handlungen, Sitten und Weltanschauungen des durchschnittlichen Wetsteuropäers beherrscht: nichts von der Enge des westlichen Horizonts, den Kraftanlagen umsäumen und Fabrikschornsteine durchzacken […], schrieb Joseph Roth, der im Exil in Paris einsam und krank vom Alkohol starb, in seinem berühmten Essay »Juden auf Wanderschaft« von 1927.
Aron Katz änderte seinen Namen nicht, dagegen gab sich seine Frau Goldy (sie stammte aus Rudky) – wohl als ersten Schritt der Anpassung und um nicht unbedingt durch ihren jüdischen Namen aufzufallen – den deutschen Vornamen Jenny und aus Hersch Wolff Katz wurde Heinrich Wilhelm Katz, kurz »Willy«. Er erlebte als Kind anders als die Erwachsenen Flucht, Vertreibung und neue Heimat. Für ihn war das Leben in Gera ein großes Abenteuer.
In der Arndtstraße 3 bezog Aron Katz seine erste Wohnung. Hier starb am 6. November 1916 im Alter von 30 Jahren seine Frau Jenny bei der Geburt ihres dritten Kindes am Kindbettfieber. Das Kind üerlebte nicht. Jenny Katz wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Leipzig beigesetzt. Dieser schmerzhafte Verlust veränderte das Zusammenleben der Familie. Besonders der sensible neunjährige Willy litt unter dem Verlust und konnte sich nicht mit Gustl, der neuen Frau seines Vaters, die aus Krakau in Polen stammte und streng gläubig war, anfreunden..
Seitdem ich keine Mutter mehr hatte, lässt Katz später in seinem Roman »Schloßgasse 21. In einer kleinen Stadt«, seinen Ich-Erzähler Jakob Fischmann sagen, war ich manchmal sehr unglücklich. Wenn andere Kinder von ihrer Mutter sprachen, blieb ich stumm.
Die Familie bekam noch Zuwachs durch die Geburt des Stiefbruders Saul, Jahrgang 1921. Aron Katz war in die Altenburger Straße 7 gezogen. Hier lebte er mit seiner Familie bis 1938. Willy hatte sich wohl nach dem Tod der Mutter von der Familie getrennt und suchte ein eigenständiges Leben. Er wohnte bei Verwandten und später in einem Zimmer in der Hußstraße, in der Nähe der Bauvereinstraße, wo Onkel Mathis sein Geschäft hatte. Er versorgte sich wahrscheinlich ganz selbstständig und übte kleinere Tätigkeiten aus.
Abb. 1-4: Foto: Annerose Kirchner / Abb. 5: Ansichtskarte, um 1940.
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