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Literarisches Thüringen um 1800
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Textarchiv Christoph Schmitz-Scholemann
Christoph Schmitz-Scholemann
Thüringer Literaturrat e.V.
Charlotte von Kalb entstammte altem niederfränkischem Landadel. Am 25. Juli 1761 wurde sie als drittes von sechs Kindern des Freiherrn Johann Friedrich Philipp Marschalk von Ostheim und seiner Frau Wilhelmine (geborene von Stein-Nordheim) in Waltershausen geboren: der Ort liegt im unterfränkischen (bayrischen) Teil des Grabfelds, hart an der Grenze zu Thüringen. Das Gefühl, um Liebe kämpfen zu müssen, lernte Charlotte allem Anschein nach früh kennen. Ihre Mutter hatte gehofft, einen Knaben zur Welt zu bringen. Aber, so schrieb Charlotte in ihren Erinnerungen: »Das Kind war ein Mädchen. Heftig rief sie (die Mutter) aus: ›Du solltest nicht dasein!‹« Vom abgeklärten Standpunkt eines Betrachters, der die Gender-Debatten des 21. Jahrhunderts im Hinterkopf hat, ist man vielleicht geneigt, die im 18. Jahrhundert noch übliche Abwertung weiblicher Nachkommenschaft durch die Eltern als zeitbedingte Erscheinung abzutun, die zu üblich war, um jemanden zu verletzen. In Wahrheit ist es wohl eher so, dass die Verletzungen, die Mädchen und Frauen durch systematische Abwertung zugefügt wurden, zu üblich waren, als dass man sie ernst genommen hätte. Zu allen Zeiten muss es für eine Kinderseele die schneidendste Kränkung gewesen sein, von der eigenen Mutter explizite und existenzielle Ablehnung zu erfahren.
Als Charlotte sieben Jahre alt ist, sterben ihre Eltern im Abstand von wenigen Monaten. Charlotte und ihre drei Geschwister (zwei Schwestern, ein Bruder) wachsen bei Pflegeeltern auf, nicht unbehütet und in einigem Wohlstand – aber auf die Selbstverständlichkeit familiärer Nestwärme müssen sie verzichten. Charlotte, schöne große Augen, volles Haar, scheint ein verträumtes, aber auch sehr ernstes Mädchen gewesen zu sein. »Mit Docken (Puppen) habe ich nie gespielt.« bekannte sie später. Ein Biograph sagt: »Bald erschien sie unjugendlich, seltsam, verschlossen und störrig«. Sie las viel, dachte nach und schrieb zum Tode ihrer Pflegemutter ein Gedicht, das bei aller Konventionalität Gefühl verrät und einer gewissen formalen Gewandtheit nicht ermangelt:
Nimm hin, den Dank, Du heil’ge Fromme,
Gute, sanfte Dulderin,
Meine Thränen, bis ich komme
Und wie Du vollendet bin.In der Stunde, wo die morsche Hülle
Deiner Seele sich von ihr getrennt,
That ich heilige Gelübde in der Stille,
Die ein Engel Dir vor Gottes Throne nennt.Freud‘ und Wonn‘ umstrahlt, wie Glanz von Kronen
Selige, vor diesem Throne Dich,
Wiedersehn der Deinen wird’s einst lohnen;
Unter Deinen Kindern, Mutter, find’st Du mich.
Anno 1783, sie war inzwischen 22 Jahre alt, ergab sich Charlotte Marschalk von Ostheim ziemlich widerstandslos der für sie arrangierten Eheschließung mit ihrem Schwager, dem Major Heinrich Julius Alexander von Kalb, Bruder des für seine prekären Geldgeschäfte bekannten Weimarer Kammerpräsidenten Johann August Alexander von Kalb; beide waren die Söhne des weiland Weimarer Kammerpräsidenten Karl Alexander von Kalb – alle Abkömmlinge des seit dem 15. Jahrhundert in Kalbsrieth in der Goldenen Aue residierenden Rittergeschlechts. Das 1680 errichtete Schloss Kalbsrieth ist heute wieder in Privatbesitz und wird derzeit von rührigen jungen Leuten Stück für Stück hergerichtet.
Charlottes Mann jedenfalls, der auch Henry Jules Alexandre genannt wurde, war von altem Adel, und er war ein Kriegsheimkehrer, er hatte in französischen Diensten am amerikanischen Befreiungskrieg teilgenommen und litt darunter, sein eigentliches Talent als Bonvivant und Haudegen im damals eher verschlafenen Thüringen nicht entfalten zu können. Immerhin hatte er angenehme Umgangsformen und bewies eine beträchtliche Großzügigkeit in Fragen ehelicher Treue – seiner eigenen Treue und der Charlottes. Ein rechter Seelenfreund für die empfindsame Charlotte wurde er allerdings nie. Charlotte schrieb in ihren Erinnerungen später:
»Gegenseitig war es wohl weder Wunsch noch Neigung – (sondern eher) der Gleichmuth des Leidens; aber dass für die Frau das Bündniss so ganz ohne irdischen Vorteil, schien dem Gemüth die Lichtseite zu sein.«
Charlotte scheint also nachgerade stolz darauf gewesen zu sein, dass die Ehe ihr keine Vorteile brachte – als ob es ein moralisches Verdienst wäre, wenn das Heiraten nicht nur ohne Liebe geschieht, sondern auch noch ein schlechtes Geschäft ist. Wir bewegen uns hier ohne Zweifel in den latent masochistischen Sumpfgebieten christlicher Moral. Tatsächlich gab es übrigens sehr wohl handfeste Interessen, die Charlotte, ihrer Schwester und der Verwandtschaft die Verheiratung mit den Brüdern von Kalb empfahlen: Die Sicherung des Familienvermögens der Ostheims, das vor allem in Grundstücken bestand, galt als gefährdet und sollte durch die welterfahrenen Brüder von Kalb mit ihren europaweiten Kontakten nach Wien und Paris gefördert werden. Trotz aller Mühe, die sich die von Kalbs gaben: Das genaue Gegenteil einer Vermögensförderung trat im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnten ein. Ein wahrer Dschungel von Klagen und Widerklagen, ein Urwald von Prozessen verdunkelte im Laufe mehrerer Jahrzehnte die Rechtslage ebenso wie die Vermögensaussichten der von Kalbs. Die Brüder ruinierten ihr eigenes Vermögen, und das ihrer Frauen gleich mit. Charlottes Mann Heinrich, der die letzten Jahren seines Lebens mit seiner Köchin zusammenlebte, jagte sich am Osterdienstag 1806 in München im Gasthaus zum Goldenen Hahn eine Kugel in den Kopf und verstarb.
Abb. 1-5: Fotos Jens Kirsten.
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