Es war der beste und größte Kramladen in Eisfeld. Und keiner konnte unangemeldet zu ihm kommen, denn jedes Mal, wenn man die Tür aufstieß, klingelte es und zitterte durch das ganze Haus. Und gleich darauf erschien irgendein Angestellter oder die Wirtschafterin, die Heinlein, von der man nicht wusste, ob sie nach Kümmel oder nach Vanilleschnaps roch. Oder der dicke Herr erschien höchst selbst in eigener Person, elfenbeinerne Berlocken und Eberzähne an der goldenen Uhrkette über den Bauch.
Eine Reihe von Jahren war auf das Klingeln ein merkwürdiges Individuum hinter dem Ladentisch hervorgekommen. Das Wesen schaute aus wie ein Jüngling, mit einer grünen Schürze vor den Beinen, linkisch in seinen Bewegungen. Es summte eine Melodie in sich hinein, die es eben nebenan für sich komponiert hatte und sah den Käufer oder die Käuferin ganz verträumt und verdutzt an, als hätte es fragen wollen: ›Was wünschen Sie: Ein Pfund Beethoven, eine Elle Schubert oder für 21/2 Neugroschen Shakespeare?‹ Und dann kam es vor, dass das verträumte Wesen Mandeln statt Linsen oder Anissamen statt Schnupftabak zuwog und einen gedörrten Stockfisch statt eines Coburger Brotes in den Korb legte. Bis der dicke Herr kam, ihn neckte: ›Was bist du nun? Otto Ludwig oder Ludwig Otto?‹ und ihn schmunzelnd vom Ladentisch zur Musik zurückjagte.
In jenem Arbeitszimmer gewahrte man einen Tisch, einige gepolsterte Stühle, ein altes Sofa, einen Spiegel und einen Flügel. Das Zimmer mußte in den Wintermonaten mindestens auf 18 Grad R. durchgewärmt sein. Sobald er sein Arbeitszimmer betrat, zog er seine weit hinaufreichenden Troddelsocken und seinen unansehnlichen Schlafrock an. Waren dann die ersten Wölckchen seiner langen Tabakspfeife entstiegen, so schritt er neubelebt und unter häufigem Schütteln mit dem Kopfe stundenlang sinnend im Zimmer auf und ab. Wollte er schreiben, so strich er die über die Schläfe herabfallenden reichen Haare zurück, knüpfte sich einen Bindfaden um Stirn und Hinterkopf, legte sich Papier zurecht und schrieb ohne Unterbrechung ganze Bogenseiten voll… Abends von 8–11 trieb er Englisch oder vertiefte sich in die Werke Shakespeares und Goethes. Dann konnte er stundenlang lautlos sitzen, ohne zu merken, daß der Ofen kaltgeworden war und seiner Tabakspfeife kein Wölkchen mehr entstieg.
Abb. 1: unbekannter Fotograf, um 1900 / Abb. 2: Kohlezeichnung, unbekannter Künstler, um 1840. Alle Fotos Museum Eisfeld.
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